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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Drinnen und draußen

müssen. Dagegen stehen fünfzigtausend
Menschen, die mit uns weder durch Inter¬
essen noch durch Sprache, noch durch
Neigung verbunden sind und die wir
unserer nationalen Einheit nicht angliedern
können ohne flagrante Verletzung des
Rechtes. Zweifelt man an ihrer Gesinnung,
so befrage man sie durch geheime Er¬
hebungen, die jede Gemeinde für sich an¬
stellt. Der Friedensvertrag sieht ein solches
Abstimmungsverfahren nicht vor, verbietet
es aber sicherlich keinesfalls. Fordern wir
es von unserer Regierung!

"die Kulturfrage in Elsaß und Loth¬
ringen " mit allem Nachdruck zur Debatte ge¬
stellt. So wird im " Elsässer", dem führen¬
den Organ des katholischen Unterelsasses in
einem Leitartikel der Nummer 63 vom
7. Februar, der diesen Titel trägt, ohne alle
Umschweife festgestellt, daß sich seit langem
"eine steig ende Unzufriedenheit bemerk¬
bar mache, nicht nur der französischen Ver¬
waltung gegenüber, sondern überhaupt
gegen das französische Wesen, beson¬
ders gegen das arrogante Gebaren so
mancher Einwanderer aus dem Mutterland."

Frankreich hat zwar politisch gesiegt, so
Wird des weiteren ausgeführt, dieser Sieg
könne ihm aber verhängnisvoll werden,
wenn es ihn nicht durch moralische Erobe¬
rung zu unterbauen verstehe. Der"TemPs"
habe in seiner Nummer vom 21. Mai 1919
mit Recht ausgeführt, daß Frankreich vor
der Aufgabe stehe, die germanische Kultur
am Rhein innerlich zu überwinden und
durch die französisch-romanische zu ersetzen.
Von dem tatsächlichen Erweis der
Überlegenheit der französischen
Kultur auf geistigem und materiellem Ge¬
biet hänge letzten Endes Frankreichs zu¬
künftige Machtstellung gegenüber dem ger¬
manischen Kulturgebiet ab.

Annexion ohne formelle Zustimmung der
Beteiligten wäre ein Gewaltakt, den Sozia¬
listen nicht schweigend zulassen dürfen, gegen
den sie vielmehr feierlichste Verwahrung ein¬
legen müssen.


Die Kulturfrage i" Elsaß und Loth¬

ringen.

In der Kammersitzung vom 30.
Januar hat Millerand, der neue französische
Ministerpräsident, mit tönenden Worten auf
die Erfolge seiner politischen Tätigkeit in
Elsaß-Lothringen hingewiesen und sich da¬
durch den Beifall der Kammer erworben.

Im Elsaß ist niam allem Anschein nach
anderer Meinung: man bezweifelt zwar nicht
die Fähigkeit und den guten Willen des
ersten Statthalters Frankreichs, der in Siraß-
burg residierte, mau ist aber doch im allge¬
meinen zu der Erkenntnis gelangt, daß die
französische Herrschaft im Lande trotz all der
schönen Feste von der großen Masse der
Bevölkerung im Grunde ihres Herzens als
Fremdherrschaft empfunden wird.

Im Elsaß habe Frankreich seine Kultur¬
mission schon auszuführen begonnen. ES
frage sich nur mit welchem Erfolg I Wer
die wahre Antwort hören wolle, der dürfe
sie nicht in den Salons der Bourgeoisie
suchen, der müsse vielmehr das Volk auf
den Arbeitsstätten, in den Eisenbahnwagen
S. und 4. Klasse, in den Arbeiter- und
Bauernschenken belauschen. Das Volksurteil
das er da hören müsse, komme beinahe einer
Verurteilung gleich, es laute:

Diesen Eindruck gewinnt, wer trotz des
beinahe hermetischen Abschlusses des Landes
von der Außenwelt Gelegenheit hat, die
elsässische Presse zu verfolgen. Bis vor
kurzem hat sie sich im allgemeinen damit
begnügt, von Fall zu Fall gegen französische
Übergriffe aufzubegehren. Seit kurzem aber
wird der Ton grundsätzlicher, vor allem in
der katholischen Presse des Landes. Nicht
nur wird da immer wieder die Aufrecht¬
erhaltung einer selbständigen elsaß-lothrin-
gischen Verwaltung unter möglichster Aus¬
scheidung der innerfranzöfischen Beamten
gefordert; nicht nur wird unter deutlichem
Hinweis auf den alten Landtag der deutschen
Zeit die Errichtung einer heimischen Volks¬
vertretung verlangt, es wird neuerdings auch

"Frankreichs Prestige hat seit
dem Waffenstillstand nicytgewonnen,
sondern verloren; die elsässische
Bevölkerung ist Frankreich seither
nicht näher gekommen, sondern
ferner gerückt."

Die Ursachen hierfür lägen offen zutage:
"Die moralische Leichtfertigkeit und Frivolität
auf der Straße, die überlebten Meth"den,
die Korruption in manchen Verwaltungen,
die Mißstände bei den Sequestrationen und
Liquidationen, der Mangel an zielbewußter


Drinnen und draußen

müssen. Dagegen stehen fünfzigtausend
Menschen, die mit uns weder durch Inter¬
essen noch durch Sprache, noch durch
Neigung verbunden sind und die wir
unserer nationalen Einheit nicht angliedern
können ohne flagrante Verletzung des
Rechtes. Zweifelt man an ihrer Gesinnung,
so befrage man sie durch geheime Er¬
hebungen, die jede Gemeinde für sich an¬
stellt. Der Friedensvertrag sieht ein solches
Abstimmungsverfahren nicht vor, verbietet
es aber sicherlich keinesfalls. Fordern wir
es von unserer Regierung!

„die Kulturfrage in Elsaß und Loth¬
ringen " mit allem Nachdruck zur Debatte ge¬
stellt. So wird im „ Elsässer", dem führen¬
den Organ des katholischen Unterelsasses in
einem Leitartikel der Nummer 63 vom
7. Februar, der diesen Titel trägt, ohne alle
Umschweife festgestellt, daß sich seit langem
„eine steig ende Unzufriedenheit bemerk¬
bar mache, nicht nur der französischen Ver¬
waltung gegenüber, sondern überhaupt
gegen das französische Wesen, beson¬
ders gegen das arrogante Gebaren so
mancher Einwanderer aus dem Mutterland."

Frankreich hat zwar politisch gesiegt, so
Wird des weiteren ausgeführt, dieser Sieg
könne ihm aber verhängnisvoll werden,
wenn es ihn nicht durch moralische Erobe¬
rung zu unterbauen verstehe. Der„TemPs"
habe in seiner Nummer vom 21. Mai 1919
mit Recht ausgeführt, daß Frankreich vor
der Aufgabe stehe, die germanische Kultur
am Rhein innerlich zu überwinden und
durch die französisch-romanische zu ersetzen.
Von dem tatsächlichen Erweis der
Überlegenheit der französischen
Kultur auf geistigem und materiellem Ge¬
biet hänge letzten Endes Frankreichs zu¬
künftige Machtstellung gegenüber dem ger¬
manischen Kulturgebiet ab.

Annexion ohne formelle Zustimmung der
Beteiligten wäre ein Gewaltakt, den Sozia¬
listen nicht schweigend zulassen dürfen, gegen
den sie vielmehr feierlichste Verwahrung ein¬
legen müssen.


Die Kulturfrage i» Elsaß und Loth¬

ringen.

In der Kammersitzung vom 30.
Januar hat Millerand, der neue französische
Ministerpräsident, mit tönenden Worten auf
die Erfolge seiner politischen Tätigkeit in
Elsaß-Lothringen hingewiesen und sich da¬
durch den Beifall der Kammer erworben.

Im Elsaß ist niam allem Anschein nach
anderer Meinung: man bezweifelt zwar nicht
die Fähigkeit und den guten Willen des
ersten Statthalters Frankreichs, der in Siraß-
burg residierte, mau ist aber doch im allge¬
meinen zu der Erkenntnis gelangt, daß die
französische Herrschaft im Lande trotz all der
schönen Feste von der großen Masse der
Bevölkerung im Grunde ihres Herzens als
Fremdherrschaft empfunden wird.

Im Elsaß habe Frankreich seine Kultur¬
mission schon auszuführen begonnen. ES
frage sich nur mit welchem Erfolg I Wer
die wahre Antwort hören wolle, der dürfe
sie nicht in den Salons der Bourgeoisie
suchen, der müsse vielmehr das Volk auf
den Arbeitsstätten, in den Eisenbahnwagen
S. und 4. Klasse, in den Arbeiter- und
Bauernschenken belauschen. Das Volksurteil
das er da hören müsse, komme beinahe einer
Verurteilung gleich, es laute:

Diesen Eindruck gewinnt, wer trotz des
beinahe hermetischen Abschlusses des Landes
von der Außenwelt Gelegenheit hat, die
elsässische Presse zu verfolgen. Bis vor
kurzem hat sie sich im allgemeinen damit
begnügt, von Fall zu Fall gegen französische
Übergriffe aufzubegehren. Seit kurzem aber
wird der Ton grundsätzlicher, vor allem in
der katholischen Presse des Landes. Nicht
nur wird da immer wieder die Aufrecht¬
erhaltung einer selbständigen elsaß-lothrin-
gischen Verwaltung unter möglichster Aus¬
scheidung der innerfranzöfischen Beamten
gefordert; nicht nur wird unter deutlichem
Hinweis auf den alten Landtag der deutschen
Zeit die Errichtung einer heimischen Volks¬
vertretung verlangt, es wird neuerdings auch

„Frankreichs Prestige hat seit
dem Waffenstillstand nicytgewonnen,
sondern verloren; die elsässische
Bevölkerung ist Frankreich seither
nicht näher gekommen, sondern
ferner gerückt."

Die Ursachen hierfür lägen offen zutage:
„Die moralische Leichtfertigkeit und Frivolität
auf der Straße, die überlebten Meth«den,
die Korruption in manchen Verwaltungen,
die Mißstände bei den Sequestrationen und
Liquidationen, der Mangel an zielbewußter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/324>, abgerufen am 01.09.2024.