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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der belgische Staatsnationalismus

im Begriffe, reaktionär zu werden, wie man an den Kriegszielen der Westmächte,
die auf Wiederherstellung dringen, ganz deutlich sehen kann. Konservativismus
und Sozialismus aber, die bei uns in mancher Hinsicht verwandter sind, als sie
selber wissen, können heute, wenn sie die Stunde recht begreifen, gerade zu Trägern
echten Fortschrittes werden, wie sie es schon in Bismarcks vorbildlicher Person
waren. Die Gefahr für beide ist es einerseits einer Verhärtung in unfruchtbarem
Radikalismus zu verfallen, andererseits vom Liberalismus, der gerade den Höhe¬
punkt seiner geistigen und politischen Macht überschreitet, angeähnelt und in seinen
Niedergang mit hineingerissen zu werden. Die großen inneren Fragen des
Konservativismus, der heute so gut eine Krise durchmacht wie die Sozialdemokratie
und der Liberalismus, gehören hier nicht in unseren Zusammenhang. Die
Arbeiterschaft als solche wird nur mittelbar davon berührt. Auch auf die ge¬
schichtlichen Vorläufer der durch die Stunde stürmisch geforderten national-sozia¬
listischen Arbeiterbewegung, in deren Reihe besonders Lassales ehrend zu gedenken
wäre, kann auf diesem engen Raum nicht eingegangen werden. Dagegen hat uns
nun die Betrachtung so weit gefiihrt, daß wir in einem folgenden Aufsatz auf
den Krieg und seine unmittelbaren Einwirkungen auf die Zukunftsfragen einer
nationalen Arbeiterschaft zu sprechen kommen können.




Der belgische Staatsnationalismus
v Dr. Karl Buchheim on

in zweiten Teile des Faust läßt Goethe den Homunkulus auftreten,
den künstlichen Menschen, der durch die Retorte in die Welt gesetzt
ist und nun gern wie ein natürlicher Vollmensch werden möchte.
Man schafft nicht ungestraft Organismen außerhalb der natürlichen
Entstehungsbedingungen. Darüber hat niemand treffendere Er¬
fahrungen gemacht als die europäische Diplomatie. Denn auch Staaten sollen
Organismen sein, und die Homunkuli unter ihnen, die in der diplomatischen
Retorte erzeugt sind, leben sich und anderen nicht zum Segen. Das hat sich an
dem neutralisierten Königreiche Belgien gezeigt. Zwei Volkstümer umschloß es
in seinen Grenzen, und keines von beiden hatte diesen Staat auf natürliche Weise
gewollt und geschaffen. Die Wallonen neigten von jeher zu Frankreich und die
Flamen hatten überhaupt wenig politischen Schöpferwillen. Sie hängen an ihrer
volkstümlichen Tradition und an den Freiheiten ihrer lokalen Autonomie. Ja
eine sich, besonders gebildet dünkende Oberschicht hielt es für ein Zeichen wahrer
Kultur, ebenfalls zu Frankreich zu neigen. Zweimal, unter dem Bürgerkönig und


Der belgische Staatsnationalismus

im Begriffe, reaktionär zu werden, wie man an den Kriegszielen der Westmächte,
die auf Wiederherstellung dringen, ganz deutlich sehen kann. Konservativismus
und Sozialismus aber, die bei uns in mancher Hinsicht verwandter sind, als sie
selber wissen, können heute, wenn sie die Stunde recht begreifen, gerade zu Trägern
echten Fortschrittes werden, wie sie es schon in Bismarcks vorbildlicher Person
waren. Die Gefahr für beide ist es einerseits einer Verhärtung in unfruchtbarem
Radikalismus zu verfallen, andererseits vom Liberalismus, der gerade den Höhe¬
punkt seiner geistigen und politischen Macht überschreitet, angeähnelt und in seinen
Niedergang mit hineingerissen zu werden. Die großen inneren Fragen des
Konservativismus, der heute so gut eine Krise durchmacht wie die Sozialdemokratie
und der Liberalismus, gehören hier nicht in unseren Zusammenhang. Die
Arbeiterschaft als solche wird nur mittelbar davon berührt. Auch auf die ge¬
schichtlichen Vorläufer der durch die Stunde stürmisch geforderten national-sozia¬
listischen Arbeiterbewegung, in deren Reihe besonders Lassales ehrend zu gedenken
wäre, kann auf diesem engen Raum nicht eingegangen werden. Dagegen hat uns
nun die Betrachtung so weit gefiihrt, daß wir in einem folgenden Aufsatz auf
den Krieg und seine unmittelbaren Einwirkungen auf die Zukunftsfragen einer
nationalen Arbeiterschaft zu sprechen kommen können.




Der belgische Staatsnationalismus
v Dr. Karl Buchheim on

in zweiten Teile des Faust läßt Goethe den Homunkulus auftreten,
den künstlichen Menschen, der durch die Retorte in die Welt gesetzt
ist und nun gern wie ein natürlicher Vollmensch werden möchte.
Man schafft nicht ungestraft Organismen außerhalb der natürlichen
Entstehungsbedingungen. Darüber hat niemand treffendere Er¬
fahrungen gemacht als die europäische Diplomatie. Denn auch Staaten sollen
Organismen sein, und die Homunkuli unter ihnen, die in der diplomatischen
Retorte erzeugt sind, leben sich und anderen nicht zum Segen. Das hat sich an
dem neutralisierten Königreiche Belgien gezeigt. Zwei Volkstümer umschloß es
in seinen Grenzen, und keines von beiden hatte diesen Staat auf natürliche Weise
gewollt und geschaffen. Die Wallonen neigten von jeher zu Frankreich und die
Flamen hatten überhaupt wenig politischen Schöpferwillen. Sie hängen an ihrer
volkstümlichen Tradition und an den Freiheiten ihrer lokalen Autonomie. Ja
eine sich, besonders gebildet dünkende Oberschicht hielt es für ein Zeichen wahrer
Kultur, ebenfalls zu Frankreich zu neigen. Zweimal, unter dem Bürgerkönig und


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[0284] Der belgische Staatsnationalismus im Begriffe, reaktionär zu werden, wie man an den Kriegszielen der Westmächte, die auf Wiederherstellung dringen, ganz deutlich sehen kann. Konservativismus und Sozialismus aber, die bei uns in mancher Hinsicht verwandter sind, als sie selber wissen, können heute, wenn sie die Stunde recht begreifen, gerade zu Trägern echten Fortschrittes werden, wie sie es schon in Bismarcks vorbildlicher Person waren. Die Gefahr für beide ist es einerseits einer Verhärtung in unfruchtbarem Radikalismus zu verfallen, andererseits vom Liberalismus, der gerade den Höhe¬ punkt seiner geistigen und politischen Macht überschreitet, angeähnelt und in seinen Niedergang mit hineingerissen zu werden. Die großen inneren Fragen des Konservativismus, der heute so gut eine Krise durchmacht wie die Sozialdemokratie und der Liberalismus, gehören hier nicht in unseren Zusammenhang. Die Arbeiterschaft als solche wird nur mittelbar davon berührt. Auch auf die ge¬ schichtlichen Vorläufer der durch die Stunde stürmisch geforderten national-sozia¬ listischen Arbeiterbewegung, in deren Reihe besonders Lassales ehrend zu gedenken wäre, kann auf diesem engen Raum nicht eingegangen werden. Dagegen hat uns nun die Betrachtung so weit gefiihrt, daß wir in einem folgenden Aufsatz auf den Krieg und seine unmittelbaren Einwirkungen auf die Zukunftsfragen einer nationalen Arbeiterschaft zu sprechen kommen können. Der belgische Staatsnationalismus v Dr. Karl Buchheim on in zweiten Teile des Faust läßt Goethe den Homunkulus auftreten, den künstlichen Menschen, der durch die Retorte in die Welt gesetzt ist und nun gern wie ein natürlicher Vollmensch werden möchte. Man schafft nicht ungestraft Organismen außerhalb der natürlichen Entstehungsbedingungen. Darüber hat niemand treffendere Er¬ fahrungen gemacht als die europäische Diplomatie. Denn auch Staaten sollen Organismen sein, und die Homunkuli unter ihnen, die in der diplomatischen Retorte erzeugt sind, leben sich und anderen nicht zum Segen. Das hat sich an dem neutralisierten Königreiche Belgien gezeigt. Zwei Volkstümer umschloß es in seinen Grenzen, und keines von beiden hatte diesen Staat auf natürliche Weise gewollt und geschaffen. Die Wallonen neigten von jeher zu Frankreich und die Flamen hatten überhaupt wenig politischen Schöpferwillen. Sie hängen an ihrer volkstümlichen Tradition und an den Freiheiten ihrer lokalen Autonomie. Ja eine sich, besonders gebildet dünkende Oberschicht hielt es für ein Zeichen wahrer Kultur, ebenfalls zu Frankreich zu neigen. Zweimal, unter dem Bürgerkönig und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/284>, abgerufen am 27.07.2024.