Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.unter dem Kaiserreich, hat Frankreich Anstalten gemacht, den belgischen Bissen zu ^ Aber indem nun dieses Homunkulusdasein durch viele Jahrzehnte hindurch Auch ein neutraler Staat, der mehrere Nationen in sich vereinigt, kann in Grenzboten IV 1917 20
unter dem Kaiserreich, hat Frankreich Anstalten gemacht, den belgischen Bissen zu ^ Aber indem nun dieses Homunkulusdasein durch viele Jahrzehnte hindurch Auch ein neutraler Staat, der mehrere Nationen in sich vereinigt, kann in Grenzboten IV 1917 20
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unter dem Kaiserreich, hat Frankreich Anstalten gemacht, den belgischen Bissen zu
verschlucken. Von den belgischen Völkern hätte sich das eine gar nicht, das andere
wenig wirksam dagegen gewehrt, wenn nicht England dem belgischen Staats den
Willen zum Widerstand nachdrücklich gekräftigt hätte.
^ Aber indem nun dieses Homunkulusdasein durch viele Jahrzehnte hindurch
erhalten blieb, mußte in ihm der Wille, ein vollblütiger Staat zu werden, schließlich
doch erwachen und sich nun um so krampfhafter betätigen. So ist der belgische
SiaatsnationaliZmus entstanden, den wir vor dem Kriege leider viel zu wenig
beachteten und der heute die Politik von Le Havre noch gerade so gut beherrscht,
wie er vorher seit langem auch in Brüssel die Politik der belgischen Regierung
bestimmt hatte. Wir hörten und hören, wie das besiegte Belgien gar nicht daran
denkt, den Frieden mit uns vorzubereiten, sondern immer noch von dem Triumph
der Ententetruppen und von der schlieszlichen Belohnung des Ausharrens träumt.
Für die Wiederherstellung der verletzten Neutralität, um derentwillen man an¬
geblich zu den Waffen gegriffen hat, begeistert sich heute in belgischen Kreisen keirie
Seele, sondern belgische Herrschaft vom Ärmelmeer bis an den Rhein in Waffen¬
brüderschaft mit den Westmächten, das ist das große Ziel, um deswillen man
immer noch die belgischen Truppen in den flandrischen Gräben und Trichtern
ausharren läßt.
Auch ein neutraler Staat, der mehrere Nationen in sich vereinigt, kann in
der internationalen Politik eine Rolle spielen. Er ist der natürliche Anwalt all
der kosmopolitischen Interessen, die denen der Nationalstaaten guergeschichtet sind.
Internationale Organisation der Wissenschaft und Wirtschaft, des Völkerrechtes und
der Liebestätigkeit, der Klassen und der Konfessionen, das wäre seine Aufgabe.
So hat in vorbildlicher Weise die Schweiz ihre Rolle aufgefaßt: das Rote Kreuz
der Genfer Konvention und die tausendfache vermittelnde Hilfstätigkeit der Eid-
genossen zwischen den beiden großen Kriegslagern bekunden, wie ein grundsätzlich
neutraler Staat ein wichtiger Faktor der hohen Politik werden kaun. So hat
aber Belgien seine Aufgabe nicht auffassen wollen. Zwar war auch Brüssel vor
dem Kriege der Sitz mancher internationalen Organisation. Aber diese bekam
dort stets einen innerlich nicht wahrhaft neutralen, einseitig westeuropäischen oder
gar speziell französischen Anstrich. Was von Belgien an internationaler Organi-
sation ausging, gravitierte immer mit Vorliebe nach Frankreich oder England hin.
Mit Ausnahme der entschiedenen Flaminganten hielten die Belgier entweder
einfach die politischen und kulturellen Ziele Frankreichs für die ihren, oder sie
träumten von einer spezifisch belgischen Kultur, die die Aufgabe haben sollte, die
Grenzgebiete germanischer und romanischer Bevölkerung staatlich zusammenzu¬
schließen und dem System der westeuropäischen, vom Geiste Englands und Frank¬
reichs bestimmten Staaten anzugliedern. Diese Ziele wies die Geschichtsschreibung
Godefroid Kurths und Henri Pirennes dem belgischen Staate. In dieser Aufgabe
erblickten sie seine historische Rechtfertigung. Kurth und Pirenne glaubten aus
der Geschichte erweisen zu können, daß der belgische Staat von 1830 keineswegs
bloß den Bedürfnissen der damaligen Diplomatie sein Leben verdanke, sondern
daß seine Wurzeln über ein Jahrtausend rückwärts bis auf das karolingisch
Zwischenreich Lotharingien reichten. Der burgundische Staat des fünfzehnten Jahr-
Hunderts, das Reich Karls des Kühnen, sollte ebenfalls eine Verkörperung des
Grenzboten IV 1917 20
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