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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslaiide

Wie kann man Verständnis von einem Volke verlangen, dessen geistige
Führer, und das sind Lehrer, Geistliche, Gewerkschaftsführer und Schriftsteller
in ihrer überwiegend großen Mehrzahl fast ungehindert den unseren Interessen
entgegengesetzten Standpunkt vertreten dürfen?

So kommt denn das Bollwerk, das wir uns gegen den Osten errichten
wollen, auf recht wankendem Boden zu stehen. Ob der Boden bei dem un¬
ersättlichen Drängen der Polen noch wird gefestigt werden können, ist sehr die
Frage. Die Zusammensetzung des Regentschaftsrates, die ebensowenig wie die
Person des künftigen ersten Regenten schon feststehen dürfte, wird uns zunächst
zeigen, wohin die polnischen Dinge treiben können. Jedenfalls werden wir
daran erkennen, ob die Regierung des Herrn Dr. Michaelis bessere Nerven in
der Polenpolitik hat, wie die des Herrn von Bethmann Hollweg.




Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande
Rechtliche Betrachtungen zur Llsaß-Lothringischen Frage
von Professor Dr. Friedrich Oetker (Fortsetzung)
V.

Oberste Verwaltungsbehörde für Elsaß-Lothringen war bis zum Ver¬
fassungsgesetz von 1879 der Oberpräsident in Unterordnung unter den Reichs¬
kanzler, der dem Reichstage gegenüber die konstitutionelle Verantwortlichkeit trug.

Die besondere dem Oberpräsidenten erteilte, dann auf den Statthalter
übergegangene Vollmacht, bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit alle erforder¬
lichen Maßregeln zu treffen, § 10 des Reichsgesetz-s vom 30. Dezember 1871
-- Diktaturparagraph" -- erledigte sich durch das Neichsgesetz vom 18. Juni
1902 (Beseitigung des Diktaturparagraphen).

Seit dem Verfassungsgesetz von 1879 trat an Stelle des Oberprästdenten
ein Statthalter. Seine Ernennung und Abberufung steht dem Kaiser zu. Der
Statthalter ist dem Reichskanzler nicht unter-, sondern nebengeordnet, er hat
nach Labands treffender Charakterisierung die Rechtsstellung eines Reichskanzlers
für Elsaß-Lothringen. Aber es können ihm weitergehend durch Kaiserliche
Verordnung unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers "landesherrliche", d. h.
solche Befugnisse übertragen werden, die kraft Ausübung der Staatsgewalt in
Elsaß-Lothringen dem Kaiser zustehen. § 1 des Verfassungsgesetzes von 1879'
Art. II § 3 der Verfassung von 1911. Anordnungen des Statthalters in dieser


Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslaiide

Wie kann man Verständnis von einem Volke verlangen, dessen geistige
Führer, und das sind Lehrer, Geistliche, Gewerkschaftsführer und Schriftsteller
in ihrer überwiegend großen Mehrzahl fast ungehindert den unseren Interessen
entgegengesetzten Standpunkt vertreten dürfen?

So kommt denn das Bollwerk, das wir uns gegen den Osten errichten
wollen, auf recht wankendem Boden zu stehen. Ob der Boden bei dem un¬
ersättlichen Drängen der Polen noch wird gefestigt werden können, ist sehr die
Frage. Die Zusammensetzung des Regentschaftsrates, die ebensowenig wie die
Person des künftigen ersten Regenten schon feststehen dürfte, wird uns zunächst
zeigen, wohin die polnischen Dinge treiben können. Jedenfalls werden wir
daran erkennen, ob die Regierung des Herrn Dr. Michaelis bessere Nerven in
der Polenpolitik hat, wie die des Herrn von Bethmann Hollweg.




Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande
Rechtliche Betrachtungen zur Llsaß-Lothringischen Frage
von Professor Dr. Friedrich Oetker (Fortsetzung)
V.

Oberste Verwaltungsbehörde für Elsaß-Lothringen war bis zum Ver¬
fassungsgesetz von 1879 der Oberpräsident in Unterordnung unter den Reichs¬
kanzler, der dem Reichstage gegenüber die konstitutionelle Verantwortlichkeit trug.

Die besondere dem Oberpräsidenten erteilte, dann auf den Statthalter
übergegangene Vollmacht, bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit alle erforder¬
lichen Maßregeln zu treffen, § 10 des Reichsgesetz-s vom 30. Dezember 1871
— Diktaturparagraph" — erledigte sich durch das Neichsgesetz vom 18. Juni
1902 (Beseitigung des Diktaturparagraphen).

Seit dem Verfassungsgesetz von 1879 trat an Stelle des Oberprästdenten
ein Statthalter. Seine Ernennung und Abberufung steht dem Kaiser zu. Der
Statthalter ist dem Reichskanzler nicht unter-, sondern nebengeordnet, er hat
nach Labands treffender Charakterisierung die Rechtsstellung eines Reichskanzlers
für Elsaß-Lothringen. Aber es können ihm weitergehend durch Kaiserliche
Verordnung unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers „landesherrliche", d. h.
solche Befugnisse übertragen werden, die kraft Ausübung der Staatsgewalt in
Elsaß-Lothringen dem Kaiser zustehen. § 1 des Verfassungsgesetzes von 1879'
Art. II § 3 der Verfassung von 1911. Anordnungen des Statthalters in dieser


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[0403] Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslaiide Wie kann man Verständnis von einem Volke verlangen, dessen geistige Führer, und das sind Lehrer, Geistliche, Gewerkschaftsführer und Schriftsteller in ihrer überwiegend großen Mehrzahl fast ungehindert den unseren Interessen entgegengesetzten Standpunkt vertreten dürfen? So kommt denn das Bollwerk, das wir uns gegen den Osten errichten wollen, auf recht wankendem Boden zu stehen. Ob der Boden bei dem un¬ ersättlichen Drängen der Polen noch wird gefestigt werden können, ist sehr die Frage. Die Zusammensetzung des Regentschaftsrates, die ebensowenig wie die Person des künftigen ersten Regenten schon feststehen dürfte, wird uns zunächst zeigen, wohin die polnischen Dinge treiben können. Jedenfalls werden wir daran erkennen, ob die Regierung des Herrn Dr. Michaelis bessere Nerven in der Polenpolitik hat, wie die des Herrn von Bethmann Hollweg. Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande Rechtliche Betrachtungen zur Llsaß-Lothringischen Frage von Professor Dr. Friedrich Oetker (Fortsetzung) V. Oberste Verwaltungsbehörde für Elsaß-Lothringen war bis zum Ver¬ fassungsgesetz von 1879 der Oberpräsident in Unterordnung unter den Reichs¬ kanzler, der dem Reichstage gegenüber die konstitutionelle Verantwortlichkeit trug. Die besondere dem Oberpräsidenten erteilte, dann auf den Statthalter übergegangene Vollmacht, bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit alle erforder¬ lichen Maßregeln zu treffen, § 10 des Reichsgesetz-s vom 30. Dezember 1871 — Diktaturparagraph" — erledigte sich durch das Neichsgesetz vom 18. Juni 1902 (Beseitigung des Diktaturparagraphen). Seit dem Verfassungsgesetz von 1879 trat an Stelle des Oberprästdenten ein Statthalter. Seine Ernennung und Abberufung steht dem Kaiser zu. Der Statthalter ist dem Reichskanzler nicht unter-, sondern nebengeordnet, er hat nach Labands treffender Charakterisierung die Rechtsstellung eines Reichskanzlers für Elsaß-Lothringen. Aber es können ihm weitergehend durch Kaiserliche Verordnung unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers „landesherrliche", d. h. solche Befugnisse übertragen werden, die kraft Ausübung der Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen dem Kaiser zustehen. § 1 des Verfassungsgesetzes von 1879' Art. II § 3 der Verfassung von 1911. Anordnungen des Statthalters in dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/403>, abgerufen am 27.06.2024.