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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Mehmet Lenin als Volkserzieher
Schulrat Eberhard von

em Begriff einer "Nationalliteratur" haben innerhalb der Türkei
erst die jüngsten Ereignisse den Boden bereitet: der Übergang von
der Despotie zu der verfassungsmäßigen Staatsform und die lehr¬
reichen Erfahrungen des Balkan- und des Weltkrieges, die eine
Reihe sittlicher Kräfte enthauben. Dieses späte Erwachen hängt nicht
nur mit dem Einfluß des Persischen auf die Sprache und Literatur zusammen, das die
türkische Geisteswelt Jahrhunderte hindurch in seine Fesseln geschlagen hatte und
den natürlichen Blutkreislauf hemmte; es kommt auch nicht bloß auf Rechnung
der französischen Romantik, die nach dem Krimkriege in dem vornehmen
Konstantinopel den Ton angab und aufs neue dem Erwachen eines nationalen
Bewußtseins und der Entwicklung eines bodenständigen Schrifttums in den
Weg trat, vielmehr kommen die Äußerungen des politischen Regiments hinzu,
das unter Abdul Hamid jahrzehntelang geblüht, nein gewundert hat: die Willkür¬
herrschaft des Absolutismus, der launische Despotismus, die jede freiere Geistes¬
regung unterdrückende Zensur und das verhängnisvolle Spitzelsystem. Der
Begriff des Vaterlandes war den osmanischen Türken nicht nur wesensfremd,
da Balkan und Anatolien keineswegs das Stammland der herrschenden Eroberer¬
rasse find, sondern er galt auch als anrüchig und politisch verdächtig. Was
für Umtriebe mochten die Reformer unter dieser Firma verstecken! Den Gro߬
herrn mochten die duftenden Lieder preisen und seiner Dynastie den immer¬
grünen Kranz reichen, des Islams Kraft und welterobernde Mission mochten
sie besingen, aber das "Vaterland"? ... Es war ein Zeichen der Zeit, daß
vor der Jahrhundertwende ein treuer Patriot wie Mehmet Tewfik sein natio¬
nales Empfinden in einem langen Frühlingsgedicht verstecken mußte; die
Hamidische Zensur konnte das Bekenntnis echtesten Vaterlandsgefühls nicht ver¬
tragen:

und die Literatur litt unter solcher Engbrüstigkeit.




Mehmet Lenin als Volkserzieher
Schulrat Eberhard von

em Begriff einer „Nationalliteratur" haben innerhalb der Türkei
erst die jüngsten Ereignisse den Boden bereitet: der Übergang von
der Despotie zu der verfassungsmäßigen Staatsform und die lehr¬
reichen Erfahrungen des Balkan- und des Weltkrieges, die eine
Reihe sittlicher Kräfte enthauben. Dieses späte Erwachen hängt nicht
nur mit dem Einfluß des Persischen auf die Sprache und Literatur zusammen, das die
türkische Geisteswelt Jahrhunderte hindurch in seine Fesseln geschlagen hatte und
den natürlichen Blutkreislauf hemmte; es kommt auch nicht bloß auf Rechnung
der französischen Romantik, die nach dem Krimkriege in dem vornehmen
Konstantinopel den Ton angab und aufs neue dem Erwachen eines nationalen
Bewußtseins und der Entwicklung eines bodenständigen Schrifttums in den
Weg trat, vielmehr kommen die Äußerungen des politischen Regiments hinzu,
das unter Abdul Hamid jahrzehntelang geblüht, nein gewundert hat: die Willkür¬
herrschaft des Absolutismus, der launische Despotismus, die jede freiere Geistes¬
regung unterdrückende Zensur und das verhängnisvolle Spitzelsystem. Der
Begriff des Vaterlandes war den osmanischen Türken nicht nur wesensfremd,
da Balkan und Anatolien keineswegs das Stammland der herrschenden Eroberer¬
rasse find, sondern er galt auch als anrüchig und politisch verdächtig. Was
für Umtriebe mochten die Reformer unter dieser Firma verstecken! Den Gro߬
herrn mochten die duftenden Lieder preisen und seiner Dynastie den immer¬
grünen Kranz reichen, des Islams Kraft und welterobernde Mission mochten
sie besingen, aber das „Vaterland"? ... Es war ein Zeichen der Zeit, daß
vor der Jahrhundertwende ein treuer Patriot wie Mehmet Tewfik sein natio¬
nales Empfinden in einem langen Frühlingsgedicht verstecken mußte; die
Hamidische Zensur konnte das Bekenntnis echtesten Vaterlandsgefühls nicht ver¬
tragen:

und die Literatur litt unter solcher Engbrüstigkeit.


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[0260] [Abbildung] Mehmet Lenin als Volkserzieher Schulrat Eberhard von em Begriff einer „Nationalliteratur" haben innerhalb der Türkei erst die jüngsten Ereignisse den Boden bereitet: der Übergang von der Despotie zu der verfassungsmäßigen Staatsform und die lehr¬ reichen Erfahrungen des Balkan- und des Weltkrieges, die eine Reihe sittlicher Kräfte enthauben. Dieses späte Erwachen hängt nicht nur mit dem Einfluß des Persischen auf die Sprache und Literatur zusammen, das die türkische Geisteswelt Jahrhunderte hindurch in seine Fesseln geschlagen hatte und den natürlichen Blutkreislauf hemmte; es kommt auch nicht bloß auf Rechnung der französischen Romantik, die nach dem Krimkriege in dem vornehmen Konstantinopel den Ton angab und aufs neue dem Erwachen eines nationalen Bewußtseins und der Entwicklung eines bodenständigen Schrifttums in den Weg trat, vielmehr kommen die Äußerungen des politischen Regiments hinzu, das unter Abdul Hamid jahrzehntelang geblüht, nein gewundert hat: die Willkür¬ herrschaft des Absolutismus, der launische Despotismus, die jede freiere Geistes¬ regung unterdrückende Zensur und das verhängnisvolle Spitzelsystem. Der Begriff des Vaterlandes war den osmanischen Türken nicht nur wesensfremd, da Balkan und Anatolien keineswegs das Stammland der herrschenden Eroberer¬ rasse find, sondern er galt auch als anrüchig und politisch verdächtig. Was für Umtriebe mochten die Reformer unter dieser Firma verstecken! Den Gro߬ herrn mochten die duftenden Lieder preisen und seiner Dynastie den immer¬ grünen Kranz reichen, des Islams Kraft und welterobernde Mission mochten sie besingen, aber das „Vaterland"? ... Es war ein Zeichen der Zeit, daß vor der Jahrhundertwende ein treuer Patriot wie Mehmet Tewfik sein natio¬ nales Empfinden in einem langen Frühlingsgedicht verstecken mußte; die Hamidische Zensur konnte das Bekenntnis echtesten Vaterlandsgefühls nicht ver¬ tragen: und die Literatur litt unter solcher Engbrüstigkeit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/260>, abgerufen am 22.07.2024.