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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft
Professor or. Lonrad Bornhak von

Polens, aber innerhalb der Grenzen von 1772.
vor der ersten polnischen Teilung, das war seit Menschen-
polnische Forderung. Sehen wir uns dieses Polen etwas
'/-M^I näher an. so umfaßte es außer Kongreß-Polen auf der deutschen
Seite Posen und Westpreußen mit Ermeland, auf der öster¬
reichischen Galizien, auf der russischen außer dem Lehnsherzogtum Kurland auch
das ganze jetzt sogenannte Westrußland bis vor die Tore von Kiew und
Smolensk. Blättern wir im geschichtlichen Atlas etwas zurück, etwa zu 1519.
so geht die polnische Grenze im Südosten sogar noch viel weiter bis jenseit
des Dujepr, aber alles Land östlich einer Linie etwa von Luc? nach
Lemberg und Halicz heißt Großfürstentum Litauen. Und noch etwas früher
auf einer Karte zur Zeit Kaiser Karls des Vierten geht die Ostgrenze des
polnischen Reiches überhaupt auf dieser Linie und jenseit liegt das selbständige
litauische Staatswesen. Diese alte polnische Reichsgrenze ist abgesehen davon,
daß sie jenseit des San stark in ruthenisches Volksgebiet übergreift, bis auf den
heutigen Tag auch die des polnischen Volkstums. Dieser Rückblick zeigt uns:
der größte Teil dessen, was die Polen als das Polen von 1772 beanspruchen,
war gar nicht polnisch, sondern litauisch. Und wenn das polnische Dank¬
schreiben an den deutschen Kaiser hervorhebt, zwei Städte seien vor allem dem
polnischen Herzen teuer, Warschau und Wilna, so hat Wilna zwar vor den
polnischen Teilungen zum polnischen Reiche gehört, aber es ist die Hauptstadt
von Litauen.

Die Litauer bilden mit den Letten und den jetzt ausgestorbenen alten
Preußen einen besonderen indogermanischen Stamm, der sprachlich zwischen
Germanen und Slawen steht, aber mehr zu den Slawen hinneigt. Die
Letten bewohnen Kurland und die südliche Hälfte Livlands einschließlich des
Zwickels nördlich von Dünaburg (sog. Polnisch-Livland) und sind mit Aus¬
nahme der Katholiken von Polnisch-Livland seit der Reformation evangelisch.
Die Litauer sitzen in dem Winkel zwischen Kurland und Ostpreußen östlich bis
zur Linie Dünaburg ° Wilna, südlich bis Suwalki, im Gebiete der Memel
greifen sie auch nach Ostpreußen über bis an das Kurische Haff. Sie sind
durchweg katholisch, nur in Ostpreußen evangelisch. Die staatliche Zugehörigkeit
im Reformationszeitalter hat auch hier über das Bekenntnis entschieden. Die


Grenzboten I 1917 8


Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft
Professor or. Lonrad Bornhak von

Polens, aber innerhalb der Grenzen von 1772.
vor der ersten polnischen Teilung, das war seit Menschen-
polnische Forderung. Sehen wir uns dieses Polen etwas
'/-M^I näher an. so umfaßte es außer Kongreß-Polen auf der deutschen
Seite Posen und Westpreußen mit Ermeland, auf der öster¬
reichischen Galizien, auf der russischen außer dem Lehnsherzogtum Kurland auch
das ganze jetzt sogenannte Westrußland bis vor die Tore von Kiew und
Smolensk. Blättern wir im geschichtlichen Atlas etwas zurück, etwa zu 1519.
so geht die polnische Grenze im Südosten sogar noch viel weiter bis jenseit
des Dujepr, aber alles Land östlich einer Linie etwa von Luc? nach
Lemberg und Halicz heißt Großfürstentum Litauen. Und noch etwas früher
auf einer Karte zur Zeit Kaiser Karls des Vierten geht die Ostgrenze des
polnischen Reiches überhaupt auf dieser Linie und jenseit liegt das selbständige
litauische Staatswesen. Diese alte polnische Reichsgrenze ist abgesehen davon,
daß sie jenseit des San stark in ruthenisches Volksgebiet übergreift, bis auf den
heutigen Tag auch die des polnischen Volkstums. Dieser Rückblick zeigt uns:
der größte Teil dessen, was die Polen als das Polen von 1772 beanspruchen,
war gar nicht polnisch, sondern litauisch. Und wenn das polnische Dank¬
schreiben an den deutschen Kaiser hervorhebt, zwei Städte seien vor allem dem
polnischen Herzen teuer, Warschau und Wilna, so hat Wilna zwar vor den
polnischen Teilungen zum polnischen Reiche gehört, aber es ist die Hauptstadt
von Litauen.

Die Litauer bilden mit den Letten und den jetzt ausgestorbenen alten
Preußen einen besonderen indogermanischen Stamm, der sprachlich zwischen
Germanen und Slawen steht, aber mehr zu den Slawen hinneigt. Die
Letten bewohnen Kurland und die südliche Hälfte Livlands einschließlich des
Zwickels nördlich von Dünaburg (sog. Polnisch-Livland) und sind mit Aus¬
nahme der Katholiken von Polnisch-Livland seit der Reformation evangelisch.
Die Litauer sitzen in dem Winkel zwischen Kurland und Ostpreußen östlich bis
zur Linie Dünaburg ° Wilna, südlich bis Suwalki, im Gebiete der Memel
greifen sie auch nach Ostpreußen über bis an das Kurische Haff. Sie sind
durchweg katholisch, nur in Ostpreußen evangelisch. Die staatliche Zugehörigkeit
im Reformationszeitalter hat auch hier über das Bekenntnis entschieden. Die


Grenzboten I 1917 8
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[0125] [Abbildung] Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft Professor or. Lonrad Bornhak von Polens, aber innerhalb der Grenzen von 1772. vor der ersten polnischen Teilung, das war seit Menschen- polnische Forderung. Sehen wir uns dieses Polen etwas '/-M^I näher an. so umfaßte es außer Kongreß-Polen auf der deutschen Seite Posen und Westpreußen mit Ermeland, auf der öster¬ reichischen Galizien, auf der russischen außer dem Lehnsherzogtum Kurland auch das ganze jetzt sogenannte Westrußland bis vor die Tore von Kiew und Smolensk. Blättern wir im geschichtlichen Atlas etwas zurück, etwa zu 1519. so geht die polnische Grenze im Südosten sogar noch viel weiter bis jenseit des Dujepr, aber alles Land östlich einer Linie etwa von Luc? nach Lemberg und Halicz heißt Großfürstentum Litauen. Und noch etwas früher auf einer Karte zur Zeit Kaiser Karls des Vierten geht die Ostgrenze des polnischen Reiches überhaupt auf dieser Linie und jenseit liegt das selbständige litauische Staatswesen. Diese alte polnische Reichsgrenze ist abgesehen davon, daß sie jenseit des San stark in ruthenisches Volksgebiet übergreift, bis auf den heutigen Tag auch die des polnischen Volkstums. Dieser Rückblick zeigt uns: der größte Teil dessen, was die Polen als das Polen von 1772 beanspruchen, war gar nicht polnisch, sondern litauisch. Und wenn das polnische Dank¬ schreiben an den deutschen Kaiser hervorhebt, zwei Städte seien vor allem dem polnischen Herzen teuer, Warschau und Wilna, so hat Wilna zwar vor den polnischen Teilungen zum polnischen Reiche gehört, aber es ist die Hauptstadt von Litauen. Die Litauer bilden mit den Letten und den jetzt ausgestorbenen alten Preußen einen besonderen indogermanischen Stamm, der sprachlich zwischen Germanen und Slawen steht, aber mehr zu den Slawen hinneigt. Die Letten bewohnen Kurland und die südliche Hälfte Livlands einschließlich des Zwickels nördlich von Dünaburg (sog. Polnisch-Livland) und sind mit Aus¬ nahme der Katholiken von Polnisch-Livland seit der Reformation evangelisch. Die Litauer sitzen in dem Winkel zwischen Kurland und Ostpreußen östlich bis zur Linie Dünaburg ° Wilna, südlich bis Suwalki, im Gebiete der Memel greifen sie auch nach Ostpreußen über bis an das Kurische Haff. Sie sind durchweg katholisch, nur in Ostpreußen evangelisch. Die staatliche Zugehörigkeit im Reformationszeitalter hat auch hier über das Bekenntnis entschieden. Die Grenzboten I 1917 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/125>, abgerufen am 22.07.2024.