Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die neue dänische Verfassung

le neue dänische Verfassung vom 5. Juni 1915, durch die die
Verfassung von 1866 abgelöst wird, bedeutet ihrem inneren Wesen
nach eine Rückkehr zu den demokratischen Grundsätzen der Juni¬
verfassung von 1849.

Die Verfassung von 1866 war konservativer als die Juni¬
verfassung, gleichwohl beruhte sie ebenso wie diese auf der Voraussetzung des
Übergewichts des Folketings (der zweiten Kammer). Die konservativen Guts¬
besitzer hegten auch damals keine weitergehenden Wünsche. Sie wünschten ein
Oberhaus, das den Grundbesitz gegen Übergriffe eines demagogischen Folketings
beschützen könnte. Die politischen Köpfe unter ihnen sahen klar, daß das
Folketing nach der Zusammensetzung der Wählermasse aus der bereits zurück¬
gelegten politischen Entwicklung, namentlich aber durch die sür Dänemark eigen¬
tümliche Finanzgesetzbehandlung, ein Übergewicht erhalten hatte, gegen das ein
Kampf aussichtslos war. Den sichtbaren Ausdruck dieser Auffassung erhielt die
Verfassung in den Regeln über die Behandlung der Finanzgesetze, in denen das
Vorrecht der zweiten Kammer hinsichtlich aller Bewilligungsgesetze gewahrt wurde.
Ein Versuch der Nationalliberalen, die Gleichberechtigung der Kammern durch
Einrichtung eines gemeinschaftlichen Ausschusses als einer entscheidenden Instanz
über die Finanzgesetzvorlagen zu retten, wurde aufgegeben und dem Folketing
das Vorrecht auf diesem Gebiete als eine ausdrückliche "Einräumung an die
Volkssouveränität" belassen.

In den ersten Jahren nach 1866 wurde die Regierung des Landes in
diesen Geleisen geführt, aber nachdem sich 1870 die Bauernparteien unter dem
Namen der Vereinigten Linken zusammengeschlossen hatten, begann der Kampf
der Regierenden gegen den Folketmgsparlamentarismus. Dieser Kampf, der
zuerst unter nationalliberaler Leitung (Partei der städtischen Intelligenz, sogenannte
Professorenpartei) und dann unter Estrup (Partei der konservativen Gutsbesitzer)
geführt wurde, bildet den wesentlichen Inhalt der dünischen Politik von 1870
bis 1901. Gegenstand des Kampfes war von nationalliberaler und konservativer
Seite die Behauptung der völligen Gleichberechtigung der ersten Kammer, von
der gegnerischen Seite, der Vereinigten Linken, die Behauptung des Folketings-
parlamentarisnms, und dieser Kampf wurde in der Behandlung der Finanz-




Die neue dänische Verfassung

le neue dänische Verfassung vom 5. Juni 1915, durch die die
Verfassung von 1866 abgelöst wird, bedeutet ihrem inneren Wesen
nach eine Rückkehr zu den demokratischen Grundsätzen der Juni¬
verfassung von 1849.

Die Verfassung von 1866 war konservativer als die Juni¬
verfassung, gleichwohl beruhte sie ebenso wie diese auf der Voraussetzung des
Übergewichts des Folketings (der zweiten Kammer). Die konservativen Guts¬
besitzer hegten auch damals keine weitergehenden Wünsche. Sie wünschten ein
Oberhaus, das den Grundbesitz gegen Übergriffe eines demagogischen Folketings
beschützen könnte. Die politischen Köpfe unter ihnen sahen klar, daß das
Folketing nach der Zusammensetzung der Wählermasse aus der bereits zurück¬
gelegten politischen Entwicklung, namentlich aber durch die sür Dänemark eigen¬
tümliche Finanzgesetzbehandlung, ein Übergewicht erhalten hatte, gegen das ein
Kampf aussichtslos war. Den sichtbaren Ausdruck dieser Auffassung erhielt die
Verfassung in den Regeln über die Behandlung der Finanzgesetze, in denen das
Vorrecht der zweiten Kammer hinsichtlich aller Bewilligungsgesetze gewahrt wurde.
Ein Versuch der Nationalliberalen, die Gleichberechtigung der Kammern durch
Einrichtung eines gemeinschaftlichen Ausschusses als einer entscheidenden Instanz
über die Finanzgesetzvorlagen zu retten, wurde aufgegeben und dem Folketing
das Vorrecht auf diesem Gebiete als eine ausdrückliche „Einräumung an die
Volkssouveränität" belassen.

In den ersten Jahren nach 1866 wurde die Regierung des Landes in
diesen Geleisen geführt, aber nachdem sich 1870 die Bauernparteien unter dem
Namen der Vereinigten Linken zusammengeschlossen hatten, begann der Kampf
der Regierenden gegen den Folketmgsparlamentarismus. Dieser Kampf, der
zuerst unter nationalliberaler Leitung (Partei der städtischen Intelligenz, sogenannte
Professorenpartei) und dann unter Estrup (Partei der konservativen Gutsbesitzer)
geführt wurde, bildet den wesentlichen Inhalt der dünischen Politik von 1870
bis 1901. Gegenstand des Kampfes war von nationalliberaler und konservativer
Seite die Behauptung der völligen Gleichberechtigung der ersten Kammer, von
der gegnerischen Seite, der Vereinigten Linken, die Behauptung des Folketings-
parlamentarisnms, und dieser Kampf wurde in der Behandlung der Finanz-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0051" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324460"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341901_324408/figures/grenzboten_341901_324408_324460_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die neue dänische Verfassung</head><lb/>
          <p xml:id="ID_127"> le neue dänische Verfassung vom 5. Juni 1915, durch die die<lb/>
Verfassung von 1866 abgelöst wird, bedeutet ihrem inneren Wesen<lb/>
nach eine Rückkehr zu den demokratischen Grundsätzen der Juni¬<lb/>
verfassung von 1849.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_128"> Die Verfassung von 1866 war konservativer als die Juni¬<lb/>
verfassung, gleichwohl beruhte sie ebenso wie diese auf der Voraussetzung des<lb/>
Übergewichts des Folketings (der zweiten Kammer). Die konservativen Guts¬<lb/>
besitzer hegten auch damals keine weitergehenden Wünsche. Sie wünschten ein<lb/>
Oberhaus, das den Grundbesitz gegen Übergriffe eines demagogischen Folketings<lb/>
beschützen könnte. Die politischen Köpfe unter ihnen sahen klar, daß das<lb/>
Folketing nach der Zusammensetzung der Wählermasse aus der bereits zurück¬<lb/>
gelegten politischen Entwicklung, namentlich aber durch die sür Dänemark eigen¬<lb/>
tümliche Finanzgesetzbehandlung, ein Übergewicht erhalten hatte, gegen das ein<lb/>
Kampf aussichtslos war. Den sichtbaren Ausdruck dieser Auffassung erhielt die<lb/>
Verfassung in den Regeln über die Behandlung der Finanzgesetze, in denen das<lb/>
Vorrecht der zweiten Kammer hinsichtlich aller Bewilligungsgesetze gewahrt wurde.<lb/>
Ein Versuch der Nationalliberalen, die Gleichberechtigung der Kammern durch<lb/>
Einrichtung eines gemeinschaftlichen Ausschusses als einer entscheidenden Instanz<lb/>
über die Finanzgesetzvorlagen zu retten, wurde aufgegeben und dem Folketing<lb/>
das Vorrecht auf diesem Gebiete als eine ausdrückliche &#x201E;Einräumung an die<lb/>
Volkssouveränität" belassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_129" next="#ID_130"> In den ersten Jahren nach 1866 wurde die Regierung des Landes in<lb/>
diesen Geleisen geführt, aber nachdem sich 1870 die Bauernparteien unter dem<lb/>
Namen der Vereinigten Linken zusammengeschlossen hatten, begann der Kampf<lb/>
der Regierenden gegen den Folketmgsparlamentarismus. Dieser Kampf, der<lb/>
zuerst unter nationalliberaler Leitung (Partei der städtischen Intelligenz, sogenannte<lb/>
Professorenpartei) und dann unter Estrup (Partei der konservativen Gutsbesitzer)<lb/>
geführt wurde, bildet den wesentlichen Inhalt der dünischen Politik von 1870<lb/>
bis 1901. Gegenstand des Kampfes war von nationalliberaler und konservativer<lb/>
Seite die Behauptung der völligen Gleichberechtigung der ersten Kammer, von<lb/>
der gegnerischen Seite, der Vereinigten Linken, die Behauptung des Folketings-<lb/>
parlamentarisnms, und dieser Kampf wurde in der Behandlung der Finanz-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0051] [Abbildung] Die neue dänische Verfassung le neue dänische Verfassung vom 5. Juni 1915, durch die die Verfassung von 1866 abgelöst wird, bedeutet ihrem inneren Wesen nach eine Rückkehr zu den demokratischen Grundsätzen der Juni¬ verfassung von 1849. Die Verfassung von 1866 war konservativer als die Juni¬ verfassung, gleichwohl beruhte sie ebenso wie diese auf der Voraussetzung des Übergewichts des Folketings (der zweiten Kammer). Die konservativen Guts¬ besitzer hegten auch damals keine weitergehenden Wünsche. Sie wünschten ein Oberhaus, das den Grundbesitz gegen Übergriffe eines demagogischen Folketings beschützen könnte. Die politischen Köpfe unter ihnen sahen klar, daß das Folketing nach der Zusammensetzung der Wählermasse aus der bereits zurück¬ gelegten politischen Entwicklung, namentlich aber durch die sür Dänemark eigen¬ tümliche Finanzgesetzbehandlung, ein Übergewicht erhalten hatte, gegen das ein Kampf aussichtslos war. Den sichtbaren Ausdruck dieser Auffassung erhielt die Verfassung in den Regeln über die Behandlung der Finanzgesetze, in denen das Vorrecht der zweiten Kammer hinsichtlich aller Bewilligungsgesetze gewahrt wurde. Ein Versuch der Nationalliberalen, die Gleichberechtigung der Kammern durch Einrichtung eines gemeinschaftlichen Ausschusses als einer entscheidenden Instanz über die Finanzgesetzvorlagen zu retten, wurde aufgegeben und dem Folketing das Vorrecht auf diesem Gebiete als eine ausdrückliche „Einräumung an die Volkssouveränität" belassen. In den ersten Jahren nach 1866 wurde die Regierung des Landes in diesen Geleisen geführt, aber nachdem sich 1870 die Bauernparteien unter dem Namen der Vereinigten Linken zusammengeschlossen hatten, begann der Kampf der Regierenden gegen den Folketmgsparlamentarismus. Dieser Kampf, der zuerst unter nationalliberaler Leitung (Partei der städtischen Intelligenz, sogenannte Professorenpartei) und dann unter Estrup (Partei der konservativen Gutsbesitzer) geführt wurde, bildet den wesentlichen Inhalt der dünischen Politik von 1870 bis 1901. Gegenstand des Kampfes war von nationalliberaler und konservativer Seite die Behauptung der völligen Gleichberechtigung der ersten Kammer, von der gegnerischen Seite, der Vereinigten Linken, die Behauptung des Folketings- parlamentarisnms, und dieser Kampf wurde in der Behandlung der Finanz-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/51
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/51>, abgerufen am 27.12.2024.