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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die neue dänische Verfassung

vorlagen zum Austrag gebracht, indem das Folketing das Budget verweigerte
oder dessen Durchdringung verschleppte. Das war die Epoche der sogenannten
Verwelkungspolitik mit den Begrabungsausschüssen, hinschleppenden Tages¬
ordnungen, Adressen an den König usw.

Diese alljährlich wiederkehrenden parlamentarischen Scharmützel nahmen
eine ernste Wendung mit dem Verfassungsbruch durch die konservative Regierung
Estrup im Jahre 1885. Als am 1. April 1885 kein ordnungsgemäß bewilligtes
Budget vorlag, erließ Estrup ein proviforisches Finanzgesetz und geriet damit
auf das gefährliche Geleise des fortgesetzten Verfassungsbruches. Formell siegte
Estrup, in Wirklichkeit aber bereitete er den Boden sür die entscheidende Nieder¬
lage der Rechten.

Neun Jahre währte diese Epoche der provisorischen Finanzgesetze, des fort¬
gesetzten offenen Verfassungsbruches, mit dem der Opposition ein ungeheuer
wirkungsvoller Agitationsstoff in die Hand gegeben war und in der Folge die
Wählermassen der Rechten allmählich dezimiert wurden.

Die Politik der Rechten war negativ: sie galt lediglich der Bewahrung
ihrer Machtstellung; da man aber des Scheines halber positive Ziele vertreten
mußte, so wurde die Landesverteidigungsfrage, namentlich die Landbefestigung
von Kopenhagen, in den Vordergrund gerückt. Damit gleitet die Landes¬
verteidigungsfrage als eisernes Inventar in die dänische Politik und bildet
fortan den Zankapfel der Parteien. Das Folketing bewilligt alle Finanzen
mit Ausnahme der extra-ordinären militärischen Aufwendungen zum Bau der
Landbefestigungen von Kopenhagen, die dann regelmäßig am 1. April durch
ein proviforisches Finanzgesetz aufoktroyiert werden.

So ist es zu verstehen, daß die Linke Reformpartei aus parteipolitischer
Gründen in eine Opposition hineingedrängt wurde, die dem Wesen dieser mit
grundtvigianischen, stark nationalistischen Elementen konstruierten Partei nicht
entsprach. Und so ist es zu verstehen, daß diese Partei, nachdem sie später 1901
zur Negierung gelangt war, ihr ursprüngliches Wesen wieder annahm und mit
ihrem gemäßigten Flügel auf rationalistischer Grundlage Anlehnung an die
konservativen Elemente suchte und fand.

Die Estrupsche Periode der Finanzprovisorien endete 1894 mit einem Ver¬
gleich der streitenden Parteien, aber die Linke erhielt nicht den zugesicherten
Anteil an der Regierung, was in der Folge als politischer Verrat der Rechten
gebrandmarkt wurde.

Erst nach der entscheidenden Niederlage der Rechten bei den Wahlen im
Jahre 1900 entschloß sich der König im Jahre 1901 zur Annahme einer
parlamentarischen Regierung, die aus der Mehrheitspartei des Folketings, der
Linken Reformpartei, gebildet wurde. Somit hatte der dreißigjährige Krieg mit
dem endgültigen Sieg des Folketingsparlamentarismus seinen Abschluß gefunden.

Die Vereinigte Linke hatte sich 1870 gesammelt in dem Programm: Die
Juniverfassung ist das moralische Recht des Volkes. Nachdem aber die


Die neue dänische Verfassung

vorlagen zum Austrag gebracht, indem das Folketing das Budget verweigerte
oder dessen Durchdringung verschleppte. Das war die Epoche der sogenannten
Verwelkungspolitik mit den Begrabungsausschüssen, hinschleppenden Tages¬
ordnungen, Adressen an den König usw.

Diese alljährlich wiederkehrenden parlamentarischen Scharmützel nahmen
eine ernste Wendung mit dem Verfassungsbruch durch die konservative Regierung
Estrup im Jahre 1885. Als am 1. April 1885 kein ordnungsgemäß bewilligtes
Budget vorlag, erließ Estrup ein proviforisches Finanzgesetz und geriet damit
auf das gefährliche Geleise des fortgesetzten Verfassungsbruches. Formell siegte
Estrup, in Wirklichkeit aber bereitete er den Boden sür die entscheidende Nieder¬
lage der Rechten.

Neun Jahre währte diese Epoche der provisorischen Finanzgesetze, des fort¬
gesetzten offenen Verfassungsbruches, mit dem der Opposition ein ungeheuer
wirkungsvoller Agitationsstoff in die Hand gegeben war und in der Folge die
Wählermassen der Rechten allmählich dezimiert wurden.

Die Politik der Rechten war negativ: sie galt lediglich der Bewahrung
ihrer Machtstellung; da man aber des Scheines halber positive Ziele vertreten
mußte, so wurde die Landesverteidigungsfrage, namentlich die Landbefestigung
von Kopenhagen, in den Vordergrund gerückt. Damit gleitet die Landes¬
verteidigungsfrage als eisernes Inventar in die dänische Politik und bildet
fortan den Zankapfel der Parteien. Das Folketing bewilligt alle Finanzen
mit Ausnahme der extra-ordinären militärischen Aufwendungen zum Bau der
Landbefestigungen von Kopenhagen, die dann regelmäßig am 1. April durch
ein proviforisches Finanzgesetz aufoktroyiert werden.

So ist es zu verstehen, daß die Linke Reformpartei aus parteipolitischer
Gründen in eine Opposition hineingedrängt wurde, die dem Wesen dieser mit
grundtvigianischen, stark nationalistischen Elementen konstruierten Partei nicht
entsprach. Und so ist es zu verstehen, daß diese Partei, nachdem sie später 1901
zur Negierung gelangt war, ihr ursprüngliches Wesen wieder annahm und mit
ihrem gemäßigten Flügel auf rationalistischer Grundlage Anlehnung an die
konservativen Elemente suchte und fand.

Die Estrupsche Periode der Finanzprovisorien endete 1894 mit einem Ver¬
gleich der streitenden Parteien, aber die Linke erhielt nicht den zugesicherten
Anteil an der Regierung, was in der Folge als politischer Verrat der Rechten
gebrandmarkt wurde.

Erst nach der entscheidenden Niederlage der Rechten bei den Wahlen im
Jahre 1900 entschloß sich der König im Jahre 1901 zur Annahme einer
parlamentarischen Regierung, die aus der Mehrheitspartei des Folketings, der
Linken Reformpartei, gebildet wurde. Somit hatte der dreißigjährige Krieg mit
dem endgültigen Sieg des Folketingsparlamentarismus seinen Abschluß gefunden.

Die Vereinigte Linke hatte sich 1870 gesammelt in dem Programm: Die
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[0052] Die neue dänische Verfassung vorlagen zum Austrag gebracht, indem das Folketing das Budget verweigerte oder dessen Durchdringung verschleppte. Das war die Epoche der sogenannten Verwelkungspolitik mit den Begrabungsausschüssen, hinschleppenden Tages¬ ordnungen, Adressen an den König usw. Diese alljährlich wiederkehrenden parlamentarischen Scharmützel nahmen eine ernste Wendung mit dem Verfassungsbruch durch die konservative Regierung Estrup im Jahre 1885. Als am 1. April 1885 kein ordnungsgemäß bewilligtes Budget vorlag, erließ Estrup ein proviforisches Finanzgesetz und geriet damit auf das gefährliche Geleise des fortgesetzten Verfassungsbruches. Formell siegte Estrup, in Wirklichkeit aber bereitete er den Boden sür die entscheidende Nieder¬ lage der Rechten. Neun Jahre währte diese Epoche der provisorischen Finanzgesetze, des fort¬ gesetzten offenen Verfassungsbruches, mit dem der Opposition ein ungeheuer wirkungsvoller Agitationsstoff in die Hand gegeben war und in der Folge die Wählermassen der Rechten allmählich dezimiert wurden. Die Politik der Rechten war negativ: sie galt lediglich der Bewahrung ihrer Machtstellung; da man aber des Scheines halber positive Ziele vertreten mußte, so wurde die Landesverteidigungsfrage, namentlich die Landbefestigung von Kopenhagen, in den Vordergrund gerückt. Damit gleitet die Landes¬ verteidigungsfrage als eisernes Inventar in die dänische Politik und bildet fortan den Zankapfel der Parteien. Das Folketing bewilligt alle Finanzen mit Ausnahme der extra-ordinären militärischen Aufwendungen zum Bau der Landbefestigungen von Kopenhagen, die dann regelmäßig am 1. April durch ein proviforisches Finanzgesetz aufoktroyiert werden. So ist es zu verstehen, daß die Linke Reformpartei aus parteipolitischer Gründen in eine Opposition hineingedrängt wurde, die dem Wesen dieser mit grundtvigianischen, stark nationalistischen Elementen konstruierten Partei nicht entsprach. Und so ist es zu verstehen, daß diese Partei, nachdem sie später 1901 zur Negierung gelangt war, ihr ursprüngliches Wesen wieder annahm und mit ihrem gemäßigten Flügel auf rationalistischer Grundlage Anlehnung an die konservativen Elemente suchte und fand. Die Estrupsche Periode der Finanzprovisorien endete 1894 mit einem Ver¬ gleich der streitenden Parteien, aber die Linke erhielt nicht den zugesicherten Anteil an der Regierung, was in der Folge als politischer Verrat der Rechten gebrandmarkt wurde. Erst nach der entscheidenden Niederlage der Rechten bei den Wahlen im Jahre 1900 entschloß sich der König im Jahre 1901 zur Annahme einer parlamentarischen Regierung, die aus der Mehrheitspartei des Folketings, der Linken Reformpartei, gebildet wurde. Somit hatte der dreißigjährige Krieg mit dem endgültigen Sieg des Folketingsparlamentarismus seinen Abschluß gefunden. Die Vereinigte Linke hatte sich 1870 gesammelt in dem Programm: Die Juniverfassung ist das moralische Recht des Volkes. Nachdem aber die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/52>, abgerufen am 22.07.2024.