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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Politik

Der Feind der Menschheit. In unzähligen
Broschüren- und Zeitschriftenanssätzen werden
die wohltätigen ethischen Wirkungen des Welt¬
krieges gepriesen. Sie sind ja nicht zu be¬
zweifeln, aber hier und da wird die Frage
aufgeworfen, ob nicht diese Kriegscthik ein
wenig einseitig sei und manche wichtige Tugend
in Gefahr schwebe, zu verkümmern. Bedenken
dieser Art mögen das gewesen sein, was die
deutsche Großloge bestimmt hat. durch ihre
Mannheimerstiftung eine Preisaufgabe auszu¬
schreiben und die vier besten der einge¬
gangenen Arbeiten unter dem Titel "Menschen¬
liebe, Gerechtigkeit und Duldsamkeit als
Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft" (bei
Friedrich Andreas Perthes in Gotha) zu ver-
öffentlichen. Neues lies; sich ja über dieses
Thema nicht sagen, doch deckt namentlich der
dritte Bearbeiter, Paul Eberhardt, mit scharf¬
sinnigen Untersuchungen feine Psychologische
Züge des sozialethischen Lebens auf, die nicht
als Binsenwahrheiten bezeichnet werden können.

Aber dürfen wir uns den Luxus erlauben,
Humanitätstheorien feiner auszufeilen in
diesen furchtbaren Tagen, da die Humanität
selbst mit dem Untergänge bedroht ist? Man
täusche sich nicht! Wenn die Westmächte in
ihrem Wahnsinn verharren und Rußland
weiter mit Geld und Waffen unterstützen,
dann ermöglicht dem Zaren sein unerschöpf¬
liches und rasch wachsendes Menschenmatsrial,
die Dampfwalze schon aus Rachsucht aufs
neue in Bewegung zu setzen, die dann, da
unsere ruhmreichen Siege den Kern unserer
männlichen Bevölkerung gekostet haben, einen
gleich unüberwindlichen Schutzwall nicht vor¬
findet wie beim ersten Anlauf. Die Er¬
drückung der Zentralmächte aber bedeutet die
Herrschaft Rußlands über Europa -- was
Wollte daS schwächliche Frankreich, das un¬

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kriegerische Italien ausrichten gegen den
Koloß? -- und die Herrschaft des Zartums
bedeutet die Vernichtung der Kultur und die
unumschränkte Herrschaft der Barbarei, der
Unmenschlichkeit.

Das Zartum -- nicht das russische Volk --
ist die grundsätzliche Unmenschlichkeit. Auch
im Westen geschieht Häßliches, im Ganzen aus
künstlich erzeugter Verblendung, im einzelnen,
weil doch eben auch unsere westlichen und
südlichen Nachbarn Menschen sind, jeder
Mensch aber unter Umständen durch Selbst¬
sucht oder leidenschaftliche Erregung zu einer
bösen Tat hingerissen werden kann. Grund¬
sätzlich jedoch sind alle Europäer human;
Wollen es sein, bestreben sich, es zu sein. DaS
Zartum dagegen ist die grundsätzliche In¬
humanität, die Unmenschlichkeit in Person.
Ans Blut und Tränen ist sein Thron, auf
grausame Ausbeutung des Volkes seine Poli¬
tische Macht gebaut. Seine Werkzeuge sind
die abscheuliche Ochrana, die Geheimpolizei,
die Attentate anstiftet, um die Verführten ab¬
schlachten und neue UnterdrückungSmnßregeln
begründen zu können, eine bestechliche, un¬
fähige, kaltherzige und brutale Beamtenschaft,
die das Volk wirtschaftlich ruiniert und jede
aufkeimende Spur geistigen Lebens, jede
Freiheitsregung erstickt, und Kosalenhorden,
Welche mit der Knute die aus solchem Geiste
geborenen Befehle der Verwaltungsbehörden
vollstrecken.

Zur Abwehr der von diesem Feinde der
Menschheit drohenden Gefahr tun Schriften
not wie "Der Weltkrieg und das Schicksal
des jüdischen Volkes" von Ainjamin Segel
(bei Georg Stille in Berlin). Der Verfasser
erzählt uns ja nichts neues. (Um "das
Schicksal des jüdischen Volkes", wie er sich es
denkt, in p-u-Luki,chi kurz abzufertigen: die
Hauptmasse der Juden wohnt in Rußland;
dort wird ein Drittel totgeschlagen, ein Drittel

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Politik

Der Feind der Menschheit. In unzähligen
Broschüren- und Zeitschriftenanssätzen werden
die wohltätigen ethischen Wirkungen des Welt¬
krieges gepriesen. Sie sind ja nicht zu be¬
zweifeln, aber hier und da wird die Frage
aufgeworfen, ob nicht diese Kriegscthik ein
wenig einseitig sei und manche wichtige Tugend
in Gefahr schwebe, zu verkümmern. Bedenken
dieser Art mögen das gewesen sein, was die
deutsche Großloge bestimmt hat. durch ihre
Mannheimerstiftung eine Preisaufgabe auszu¬
schreiben und die vier besten der einge¬
gangenen Arbeiten unter dem Titel „Menschen¬
liebe, Gerechtigkeit und Duldsamkeit als
Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft" (bei
Friedrich Andreas Perthes in Gotha) zu ver-
öffentlichen. Neues lies; sich ja über dieses
Thema nicht sagen, doch deckt namentlich der
dritte Bearbeiter, Paul Eberhardt, mit scharf¬
sinnigen Untersuchungen feine Psychologische
Züge des sozialethischen Lebens auf, die nicht
als Binsenwahrheiten bezeichnet werden können.

Aber dürfen wir uns den Luxus erlauben,
Humanitätstheorien feiner auszufeilen in
diesen furchtbaren Tagen, da die Humanität
selbst mit dem Untergänge bedroht ist? Man
täusche sich nicht! Wenn die Westmächte in
ihrem Wahnsinn verharren und Rußland
weiter mit Geld und Waffen unterstützen,
dann ermöglicht dem Zaren sein unerschöpf¬
liches und rasch wachsendes Menschenmatsrial,
die Dampfwalze schon aus Rachsucht aufs
neue in Bewegung zu setzen, die dann, da
unsere ruhmreichen Siege den Kern unserer
männlichen Bevölkerung gekostet haben, einen
gleich unüberwindlichen Schutzwall nicht vor¬
findet wie beim ersten Anlauf. Die Er¬
drückung der Zentralmächte aber bedeutet die
Herrschaft Rußlands über Europa — was
Wollte daS schwächliche Frankreich, das un¬

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kriegerische Italien ausrichten gegen den
Koloß? — und die Herrschaft des Zartums
bedeutet die Vernichtung der Kultur und die
unumschränkte Herrschaft der Barbarei, der
Unmenschlichkeit.

Das Zartum — nicht das russische Volk —
ist die grundsätzliche Unmenschlichkeit. Auch
im Westen geschieht Häßliches, im Ganzen aus
künstlich erzeugter Verblendung, im einzelnen,
weil doch eben auch unsere westlichen und
südlichen Nachbarn Menschen sind, jeder
Mensch aber unter Umständen durch Selbst¬
sucht oder leidenschaftliche Erregung zu einer
bösen Tat hingerissen werden kann. Grund¬
sätzlich jedoch sind alle Europäer human;
Wollen es sein, bestreben sich, es zu sein. DaS
Zartum dagegen ist die grundsätzliche In¬
humanität, die Unmenschlichkeit in Person.
Ans Blut und Tränen ist sein Thron, auf
grausame Ausbeutung des Volkes seine Poli¬
tische Macht gebaut. Seine Werkzeuge sind
die abscheuliche Ochrana, die Geheimpolizei,
die Attentate anstiftet, um die Verführten ab¬
schlachten und neue UnterdrückungSmnßregeln
begründen zu können, eine bestechliche, un¬
fähige, kaltherzige und brutale Beamtenschaft,
die das Volk wirtschaftlich ruiniert und jede
aufkeimende Spur geistigen Lebens, jede
Freiheitsregung erstickt, und Kosalenhorden,
Welche mit der Knute die aus solchem Geiste
geborenen Befehle der Verwaltungsbehörden
vollstrecken.

Zur Abwehr der von diesem Feinde der
Menschheit drohenden Gefahr tun Schriften
not wie „Der Weltkrieg und das Schicksal
des jüdischen Volkes" von Ainjamin Segel
(bei Georg Stille in Berlin). Der Verfasser
erzählt uns ja nichts neues. (Um „das
Schicksal des jüdischen Volkes", wie er sich es
denkt, in p-u-Luki,chi kurz abzufertigen: die
Hauptmasse der Juden wohnt in Rußland;
dort wird ein Drittel totgeschlagen, ein Drittel

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[0136] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Politik Der Feind der Menschheit. In unzähligen Broschüren- und Zeitschriftenanssätzen werden die wohltätigen ethischen Wirkungen des Welt¬ krieges gepriesen. Sie sind ja nicht zu be¬ zweifeln, aber hier und da wird die Frage aufgeworfen, ob nicht diese Kriegscthik ein wenig einseitig sei und manche wichtige Tugend in Gefahr schwebe, zu verkümmern. Bedenken dieser Art mögen das gewesen sein, was die deutsche Großloge bestimmt hat. durch ihre Mannheimerstiftung eine Preisaufgabe auszu¬ schreiben und die vier besten der einge¬ gangenen Arbeiten unter dem Titel „Menschen¬ liebe, Gerechtigkeit und Duldsamkeit als Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft" (bei Friedrich Andreas Perthes in Gotha) zu ver- öffentlichen. Neues lies; sich ja über dieses Thema nicht sagen, doch deckt namentlich der dritte Bearbeiter, Paul Eberhardt, mit scharf¬ sinnigen Untersuchungen feine Psychologische Züge des sozialethischen Lebens auf, die nicht als Binsenwahrheiten bezeichnet werden können. Aber dürfen wir uns den Luxus erlauben, Humanitätstheorien feiner auszufeilen in diesen furchtbaren Tagen, da die Humanität selbst mit dem Untergänge bedroht ist? Man täusche sich nicht! Wenn die Westmächte in ihrem Wahnsinn verharren und Rußland weiter mit Geld und Waffen unterstützen, dann ermöglicht dem Zaren sein unerschöpf¬ liches und rasch wachsendes Menschenmatsrial, die Dampfwalze schon aus Rachsucht aufs neue in Bewegung zu setzen, die dann, da unsere ruhmreichen Siege den Kern unserer männlichen Bevölkerung gekostet haben, einen gleich unüberwindlichen Schutzwall nicht vor¬ findet wie beim ersten Anlauf. Die Er¬ drückung der Zentralmächte aber bedeutet die Herrschaft Rußlands über Europa — was Wollte daS schwächliche Frankreich, das un¬ kriegerische Italien ausrichten gegen den Koloß? — und die Herrschaft des Zartums bedeutet die Vernichtung der Kultur und die unumschränkte Herrschaft der Barbarei, der Unmenschlichkeit. Das Zartum — nicht das russische Volk — ist die grundsätzliche Unmenschlichkeit. Auch im Westen geschieht Häßliches, im Ganzen aus künstlich erzeugter Verblendung, im einzelnen, weil doch eben auch unsere westlichen und südlichen Nachbarn Menschen sind, jeder Mensch aber unter Umständen durch Selbst¬ sucht oder leidenschaftliche Erregung zu einer bösen Tat hingerissen werden kann. Grund¬ sätzlich jedoch sind alle Europäer human; Wollen es sein, bestreben sich, es zu sein. DaS Zartum dagegen ist die grundsätzliche In¬ humanität, die Unmenschlichkeit in Person. Ans Blut und Tränen ist sein Thron, auf grausame Ausbeutung des Volkes seine Poli¬ tische Macht gebaut. Seine Werkzeuge sind die abscheuliche Ochrana, die Geheimpolizei, die Attentate anstiftet, um die Verführten ab¬ schlachten und neue UnterdrückungSmnßregeln begründen zu können, eine bestechliche, un¬ fähige, kaltherzige und brutale Beamtenschaft, die das Volk wirtschaftlich ruiniert und jede aufkeimende Spur geistigen Lebens, jede Freiheitsregung erstickt, und Kosalenhorden, Welche mit der Knute die aus solchem Geiste geborenen Befehle der Verwaltungsbehörden vollstrecken. Zur Abwehr der von diesem Feinde der Menschheit drohenden Gefahr tun Schriften not wie „Der Weltkrieg und das Schicksal des jüdischen Volkes" von Ainjamin Segel (bei Georg Stille in Berlin). Der Verfasser erzählt uns ja nichts neues. (Um „das Schicksal des jüdischen Volkes", wie er sich es denkt, in p-u-Luki,chi kurz abzufertigen: die Hauptmasse der Juden wohnt in Rußland; dort wird ein Drittel totgeschlagen, ein Drittel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/136>, abgerufen am 27.12.2024.