Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches
Dr. Julius von Newald von
I.

me den Anforderungen der Pragmatik und der vollen Unpartei¬
lichkeit entsprechende Darstellung der neunapoleonischen Herrschaft
gibt es heute wohl noch ebensowenig, wie eine im großen Stile
gehaltene Biographie des merkwürdigen Mannes, der durch zwei
Jahrzehnte einen so breiten Raum in dem Bewußtsein seiner
Zeitgenossen einnahm. So gründlich hat sich in vierzig Jahren das Gesicht
Europas geändert, so scheinbar ohne Spur ist das 8eLvncI empire verschwunden,
daß wir schier zu vergessen drohen, welche führende Rolle dieses Reich zum
mindesten durch zehn Jahre gespielt; daß Louis Napoleon, trotz des unleugbaren
Sinkens seines Prestige, bis Königgrätz noch immer der mächtigste Herrscher
des Erdteils war. Der Mann selber wird für das historisch-psychologische
Studium schon durch das Rätselhafte seines Wesens, durch den Gegensatz zwischen
. der Liebenswürdigkeit seiner intimen Persönlichkeit und der Skrupellosigkeit seiner
Politik immerdar ein anziehendes Problem bleiben. Mit Redensarten wie
"Dezembermann" oder "Gaukler vom Seinestrand" kann man aber nicht sein
Auskommen finden. Mag man, und mit vollem Recht, hundert Dinge ver¬
dammen, die er getan und verschuldet: die Legende von seiner geistigen Be¬
deutungslosigkeit, die sich eine Zeitlang festgesetzt hatte, wird nicht zu halten
sein. Weit eher wird man Louis Napoleon -- wie es der Erzherzog Albrecht
einst in einem Gespräche mit Andrassy getan -- in die Reihe jener Politiker
stellen, die als die leitenden Europas zwischen 1815 und 1870 anzusehen sind:
nach Metternich und Kaiser Nikolaus und der Zeit nach vor Bismarck.

Die ziemlich reichhaltige Literatur über das zweite Kaiserreich setzt sich zum
guten Teile aus antinapoleonischen Pamphleten und aus bonapartistischen Lob-
und Verteidigungsschriften zusammen. Stark vernachlässigt waren lange einzelne
sehr interessante Partien, so die Rolle Louis Napoleons im Kampfe um die
Vorherrschaft in Deutschland. Nach dieser Richtung hin hat Heinrich Friedjungs
berühmtes Werk -- eines der gelesensten Bücher unserer Tage -- viel Neues,
Quellenmäßiges beigebracht. Für die Zeit zwischen 1866 und 1870 scheint mir




Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches
Dr. Julius von Newald von
I.

me den Anforderungen der Pragmatik und der vollen Unpartei¬
lichkeit entsprechende Darstellung der neunapoleonischen Herrschaft
gibt es heute wohl noch ebensowenig, wie eine im großen Stile
gehaltene Biographie des merkwürdigen Mannes, der durch zwei
Jahrzehnte einen so breiten Raum in dem Bewußtsein seiner
Zeitgenossen einnahm. So gründlich hat sich in vierzig Jahren das Gesicht
Europas geändert, so scheinbar ohne Spur ist das 8eLvncI empire verschwunden,
daß wir schier zu vergessen drohen, welche führende Rolle dieses Reich zum
mindesten durch zehn Jahre gespielt; daß Louis Napoleon, trotz des unleugbaren
Sinkens seines Prestige, bis Königgrätz noch immer der mächtigste Herrscher
des Erdteils war. Der Mann selber wird für das historisch-psychologische
Studium schon durch das Rätselhafte seines Wesens, durch den Gegensatz zwischen
. der Liebenswürdigkeit seiner intimen Persönlichkeit und der Skrupellosigkeit seiner
Politik immerdar ein anziehendes Problem bleiben. Mit Redensarten wie
„Dezembermann" oder „Gaukler vom Seinestrand" kann man aber nicht sein
Auskommen finden. Mag man, und mit vollem Recht, hundert Dinge ver¬
dammen, die er getan und verschuldet: die Legende von seiner geistigen Be¬
deutungslosigkeit, die sich eine Zeitlang festgesetzt hatte, wird nicht zu halten
sein. Weit eher wird man Louis Napoleon — wie es der Erzherzog Albrecht
einst in einem Gespräche mit Andrassy getan — in die Reihe jener Politiker
stellen, die als die leitenden Europas zwischen 1815 und 1870 anzusehen sind:
nach Metternich und Kaiser Nikolaus und der Zeit nach vor Bismarck.

Die ziemlich reichhaltige Literatur über das zweite Kaiserreich setzt sich zum
guten Teile aus antinapoleonischen Pamphleten und aus bonapartistischen Lob-
und Verteidigungsschriften zusammen. Stark vernachlässigt waren lange einzelne
sehr interessante Partien, so die Rolle Louis Napoleons im Kampfe um die
Vorherrschaft in Deutschland. Nach dieser Richtung hin hat Heinrich Friedjungs
berühmtes Werk — eines der gelesensten Bücher unserer Tage — viel Neues,
Quellenmäßiges beigebracht. Für die Zeit zwischen 1866 und 1870 scheint mir


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329280"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_329227/figures/grenzboten_341899_329227_329280_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches<lb/><note type="byline"> Dr. Julius von Newald</note> von</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> I.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_111"> me den Anforderungen der Pragmatik und der vollen Unpartei¬<lb/>
lichkeit entsprechende Darstellung der neunapoleonischen Herrschaft<lb/>
gibt es heute wohl noch ebensowenig, wie eine im großen Stile<lb/>
gehaltene Biographie des merkwürdigen Mannes, der durch zwei<lb/>
Jahrzehnte einen so breiten Raum in dem Bewußtsein seiner<lb/>
Zeitgenossen einnahm. So gründlich hat sich in vierzig Jahren das Gesicht<lb/>
Europas geändert, so scheinbar ohne Spur ist das 8eLvncI empire verschwunden,<lb/>
daß wir schier zu vergessen drohen, welche führende Rolle dieses Reich zum<lb/>
mindesten durch zehn Jahre gespielt; daß Louis Napoleon, trotz des unleugbaren<lb/>
Sinkens seines Prestige, bis Königgrätz noch immer der mächtigste Herrscher<lb/>
des Erdteils war. Der Mann selber wird für das historisch-psychologische<lb/>
Studium schon durch das Rätselhafte seines Wesens, durch den Gegensatz zwischen<lb/>
. der Liebenswürdigkeit seiner intimen Persönlichkeit und der Skrupellosigkeit seiner<lb/>
Politik immerdar ein anziehendes Problem bleiben. Mit Redensarten wie<lb/>
&#x201E;Dezembermann" oder &#x201E;Gaukler vom Seinestrand" kann man aber nicht sein<lb/>
Auskommen finden. Mag man, und mit vollem Recht, hundert Dinge ver¬<lb/>
dammen, die er getan und verschuldet: die Legende von seiner geistigen Be¬<lb/>
deutungslosigkeit, die sich eine Zeitlang festgesetzt hatte, wird nicht zu halten<lb/>
sein. Weit eher wird man Louis Napoleon &#x2014; wie es der Erzherzog Albrecht<lb/>
einst in einem Gespräche mit Andrassy getan &#x2014; in die Reihe jener Politiker<lb/>
stellen, die als die leitenden Europas zwischen 1815 und 1870 anzusehen sind:<lb/>
nach Metternich und Kaiser Nikolaus und der Zeit nach vor Bismarck.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_112" next="#ID_113"> Die ziemlich reichhaltige Literatur über das zweite Kaiserreich setzt sich zum<lb/>
guten Teile aus antinapoleonischen Pamphleten und aus bonapartistischen Lob-<lb/>
und Verteidigungsschriften zusammen. Stark vernachlässigt waren lange einzelne<lb/>
sehr interessante Partien, so die Rolle Louis Napoleons im Kampfe um die<lb/>
Vorherrschaft in Deutschland. Nach dieser Richtung hin hat Heinrich Friedjungs<lb/>
berühmtes Werk &#x2014; eines der gelesensten Bücher unserer Tage &#x2014; viel Neues,<lb/>
Quellenmäßiges beigebracht.  Für die Zeit zwischen 1866 und 1870 scheint mir</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] [Abbildung] Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches Dr. Julius von Newald von I. me den Anforderungen der Pragmatik und der vollen Unpartei¬ lichkeit entsprechende Darstellung der neunapoleonischen Herrschaft gibt es heute wohl noch ebensowenig, wie eine im großen Stile gehaltene Biographie des merkwürdigen Mannes, der durch zwei Jahrzehnte einen so breiten Raum in dem Bewußtsein seiner Zeitgenossen einnahm. So gründlich hat sich in vierzig Jahren das Gesicht Europas geändert, so scheinbar ohne Spur ist das 8eLvncI empire verschwunden, daß wir schier zu vergessen drohen, welche führende Rolle dieses Reich zum mindesten durch zehn Jahre gespielt; daß Louis Napoleon, trotz des unleugbaren Sinkens seines Prestige, bis Königgrätz noch immer der mächtigste Herrscher des Erdteils war. Der Mann selber wird für das historisch-psychologische Studium schon durch das Rätselhafte seines Wesens, durch den Gegensatz zwischen . der Liebenswürdigkeit seiner intimen Persönlichkeit und der Skrupellosigkeit seiner Politik immerdar ein anziehendes Problem bleiben. Mit Redensarten wie „Dezembermann" oder „Gaukler vom Seinestrand" kann man aber nicht sein Auskommen finden. Mag man, und mit vollem Recht, hundert Dinge ver¬ dammen, die er getan und verschuldet: die Legende von seiner geistigen Be¬ deutungslosigkeit, die sich eine Zeitlang festgesetzt hatte, wird nicht zu halten sein. Weit eher wird man Louis Napoleon — wie es der Erzherzog Albrecht einst in einem Gespräche mit Andrassy getan — in die Reihe jener Politiker stellen, die als die leitenden Europas zwischen 1815 und 1870 anzusehen sind: nach Metternich und Kaiser Nikolaus und der Zeit nach vor Bismarck. Die ziemlich reichhaltige Literatur über das zweite Kaiserreich setzt sich zum guten Teile aus antinapoleonischen Pamphleten und aus bonapartistischen Lob- und Verteidigungsschriften zusammen. Stark vernachlässigt waren lange einzelne sehr interessante Partien, so die Rolle Louis Napoleons im Kampfe um die Vorherrschaft in Deutschland. Nach dieser Richtung hin hat Heinrich Friedjungs berühmtes Werk — eines der gelesensten Bücher unserer Tage — viel Neues, Quellenmäßiges beigebracht. Für die Zeit zwischen 1866 und 1870 scheint mir

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/52
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/52>, abgerufen am 27.06.2024.