Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Das "baltische" Rußland
Line roirtschafts geographische Skizze
Dr. Hans Praesent von

er durch die endlosen Flächen Rußlands reist, kann nach durch-
fahrener Nacht noch dasselbe Landschaftsbild erblicken wie am
Abend vorher, und derselbe Naturcharakter kann auch noch am
folgenden Tage den Reisenden ermüden. Das ist eine oft
geschilderte Tatsache, die eine Eisenbahnfahrt in Rußlands weiten
Räumen so überaus langweilig gestaltet. Und doch weist der breite Koloß
des europäischen Rußlands, dessen Areal mehr als die Hälfte von ganz Europa
umfaßt, verschiedene Landschaststyven auf, wie das auch bei der weiten Aus-"
dehnumz von den Breiten Oberitaliens bis über den Polarkreis hinaus nicht
anders zu erwarten ist. Wie verschieden ist das reizvolle, fast südländische
Gepräge der Winterkurorte an der steilen Südküste der Krim von den öden
Tundren, die das Weiße Meer umsäumen, wie unterscheidet sich doch die wüsten¬
hafte Salzsteppe der Kaspischen Niederung von der fruchtbaren Moränenlandschaft
des nördlichen Polen.

Der moderne Geograph ist bestrebt, aus einem größeren Erdraum
sogenannte natürliche Landschaften herauszuarbeiten oder abzusondern ohne
Rücksicht auf die oft willkürliche politische Grenzführung, das heißt diejenigen
Regionen zu einer einheitlichen Betrachtung zusammenzufassen, die nach Boden¬
beschaffenheit, Klima, Pflanzen- und Tierwelt und bezüglich der Menschen und
ihrer Kultur möglichst gleichartige Verhältnisse aufweisen. Innerhalb der
natürlichen Landschaften muß der Geograph die gesetzmäßige Anordnung der
verschiedenen Elemente des Landes und seiner Lebewelt erforschen und darzustellen
versuchen und ferner das gegenseitige Verhältnis der natürlichen Regionen
erkennen. Es leuchtet ein, daß die vielen Faktoren, die der Geograph gleich¬
zeitig beachten muß, geologischer Aufbau, Morphologie, Klimatologie. Pflanzen-
und Tiergeographie, die Menschen und ihre Kultur, fast nie übereinstimmen
und oft jeder dieser Gegenstände eine besondere Einteilung verlangt. Dann
muß die geographische Darstellung sorgsam abwägen und Mittelwege einzuschlagen
suchen und jeweils die wichtigen und charakteristischen Faktoren sprechen lassen.

In einem so verhältnismäßig einfach gebauten Ländergebiet wie Rußland,
wo die verschiedenen Landschaftstypen allmählich ineinander übergehen, ist es




Das „baltische" Rußland
Line roirtschafts geographische Skizze
Dr. Hans Praesent von

er durch die endlosen Flächen Rußlands reist, kann nach durch-
fahrener Nacht noch dasselbe Landschaftsbild erblicken wie am
Abend vorher, und derselbe Naturcharakter kann auch noch am
folgenden Tage den Reisenden ermüden. Das ist eine oft
geschilderte Tatsache, die eine Eisenbahnfahrt in Rußlands weiten
Räumen so überaus langweilig gestaltet. Und doch weist der breite Koloß
des europäischen Rußlands, dessen Areal mehr als die Hälfte von ganz Europa
umfaßt, verschiedene Landschaststyven auf, wie das auch bei der weiten Aus-"
dehnumz von den Breiten Oberitaliens bis über den Polarkreis hinaus nicht
anders zu erwarten ist. Wie verschieden ist das reizvolle, fast südländische
Gepräge der Winterkurorte an der steilen Südküste der Krim von den öden
Tundren, die das Weiße Meer umsäumen, wie unterscheidet sich doch die wüsten¬
hafte Salzsteppe der Kaspischen Niederung von der fruchtbaren Moränenlandschaft
des nördlichen Polen.

Der moderne Geograph ist bestrebt, aus einem größeren Erdraum
sogenannte natürliche Landschaften herauszuarbeiten oder abzusondern ohne
Rücksicht auf die oft willkürliche politische Grenzführung, das heißt diejenigen
Regionen zu einer einheitlichen Betrachtung zusammenzufassen, die nach Boden¬
beschaffenheit, Klima, Pflanzen- und Tierwelt und bezüglich der Menschen und
ihrer Kultur möglichst gleichartige Verhältnisse aufweisen. Innerhalb der
natürlichen Landschaften muß der Geograph die gesetzmäßige Anordnung der
verschiedenen Elemente des Landes und seiner Lebewelt erforschen und darzustellen
versuchen und ferner das gegenseitige Verhältnis der natürlichen Regionen
erkennen. Es leuchtet ein, daß die vielen Faktoren, die der Geograph gleich¬
zeitig beachten muß, geologischer Aufbau, Morphologie, Klimatologie. Pflanzen-
und Tiergeographie, die Menschen und ihre Kultur, fast nie übereinstimmen
und oft jeder dieser Gegenstände eine besondere Einteilung verlangt. Dann
muß die geographische Darstellung sorgsam abwägen und Mittelwege einzuschlagen
suchen und jeweils die wichtigen und charakteristischen Faktoren sprechen lassen.

In einem so verhältnismäßig einfach gebauten Ländergebiet wie Rußland,
wo die verschiedenen Landschaftstypen allmählich ineinander übergehen, ist es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0344" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329572"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_329227/figures/grenzboten_341899_329227_329572_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das &#x201E;baltische" Rußland<lb/>
Line roirtschafts geographische Skizze<lb/><note type="byline"> Dr. Hans Praesent</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1217"> er durch die endlosen Flächen Rußlands reist, kann nach durch-<lb/>
fahrener Nacht noch dasselbe Landschaftsbild erblicken wie am<lb/>
Abend vorher, und derselbe Naturcharakter kann auch noch am<lb/>
folgenden Tage den Reisenden ermüden. Das ist eine oft<lb/>
geschilderte Tatsache, die eine Eisenbahnfahrt in Rußlands weiten<lb/>
Räumen so überaus langweilig gestaltet. Und doch weist der breite Koloß<lb/>
des europäischen Rußlands, dessen Areal mehr als die Hälfte von ganz Europa<lb/>
umfaßt, verschiedene Landschaststyven auf, wie das auch bei der weiten Aus-"<lb/>
dehnumz von den Breiten Oberitaliens bis über den Polarkreis hinaus nicht<lb/>
anders zu erwarten ist. Wie verschieden ist das reizvolle, fast südländische<lb/>
Gepräge der Winterkurorte an der steilen Südküste der Krim von den öden<lb/>
Tundren, die das Weiße Meer umsäumen, wie unterscheidet sich doch die wüsten¬<lb/>
hafte Salzsteppe der Kaspischen Niederung von der fruchtbaren Moränenlandschaft<lb/>
des nördlichen Polen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1218"> Der moderne Geograph ist bestrebt, aus einem größeren Erdraum<lb/>
sogenannte natürliche Landschaften herauszuarbeiten oder abzusondern ohne<lb/>
Rücksicht auf die oft willkürliche politische Grenzführung, das heißt diejenigen<lb/>
Regionen zu einer einheitlichen Betrachtung zusammenzufassen, die nach Boden¬<lb/>
beschaffenheit, Klima, Pflanzen- und Tierwelt und bezüglich der Menschen und<lb/>
ihrer Kultur möglichst gleichartige Verhältnisse aufweisen. Innerhalb der<lb/>
natürlichen Landschaften muß der Geograph die gesetzmäßige Anordnung der<lb/>
verschiedenen Elemente des Landes und seiner Lebewelt erforschen und darzustellen<lb/>
versuchen und ferner das gegenseitige Verhältnis der natürlichen Regionen<lb/>
erkennen. Es leuchtet ein, daß die vielen Faktoren, die der Geograph gleich¬<lb/>
zeitig beachten muß, geologischer Aufbau, Morphologie, Klimatologie. Pflanzen-<lb/>
und Tiergeographie, die Menschen und ihre Kultur, fast nie übereinstimmen<lb/>
und oft jeder dieser Gegenstände eine besondere Einteilung verlangt. Dann<lb/>
muß die geographische Darstellung sorgsam abwägen und Mittelwege einzuschlagen<lb/>
suchen und jeweils die wichtigen und charakteristischen Faktoren sprechen lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1219" next="#ID_1220"> In einem so verhältnismäßig einfach gebauten Ländergebiet wie Rußland,<lb/>
wo die verschiedenen Landschaftstypen allmählich ineinander übergehen, ist es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0344] [Abbildung] Das „baltische" Rußland Line roirtschafts geographische Skizze Dr. Hans Praesent von er durch die endlosen Flächen Rußlands reist, kann nach durch- fahrener Nacht noch dasselbe Landschaftsbild erblicken wie am Abend vorher, und derselbe Naturcharakter kann auch noch am folgenden Tage den Reisenden ermüden. Das ist eine oft geschilderte Tatsache, die eine Eisenbahnfahrt in Rußlands weiten Räumen so überaus langweilig gestaltet. Und doch weist der breite Koloß des europäischen Rußlands, dessen Areal mehr als die Hälfte von ganz Europa umfaßt, verschiedene Landschaststyven auf, wie das auch bei der weiten Aus-" dehnumz von den Breiten Oberitaliens bis über den Polarkreis hinaus nicht anders zu erwarten ist. Wie verschieden ist das reizvolle, fast südländische Gepräge der Winterkurorte an der steilen Südküste der Krim von den öden Tundren, die das Weiße Meer umsäumen, wie unterscheidet sich doch die wüsten¬ hafte Salzsteppe der Kaspischen Niederung von der fruchtbaren Moränenlandschaft des nördlichen Polen. Der moderne Geograph ist bestrebt, aus einem größeren Erdraum sogenannte natürliche Landschaften herauszuarbeiten oder abzusondern ohne Rücksicht auf die oft willkürliche politische Grenzführung, das heißt diejenigen Regionen zu einer einheitlichen Betrachtung zusammenzufassen, die nach Boden¬ beschaffenheit, Klima, Pflanzen- und Tierwelt und bezüglich der Menschen und ihrer Kultur möglichst gleichartige Verhältnisse aufweisen. Innerhalb der natürlichen Landschaften muß der Geograph die gesetzmäßige Anordnung der verschiedenen Elemente des Landes und seiner Lebewelt erforschen und darzustellen versuchen und ferner das gegenseitige Verhältnis der natürlichen Regionen erkennen. Es leuchtet ein, daß die vielen Faktoren, die der Geograph gleich¬ zeitig beachten muß, geologischer Aufbau, Morphologie, Klimatologie. Pflanzen- und Tiergeographie, die Menschen und ihre Kultur, fast nie übereinstimmen und oft jeder dieser Gegenstände eine besondere Einteilung verlangt. Dann muß die geographische Darstellung sorgsam abwägen und Mittelwege einzuschlagen suchen und jeweils die wichtigen und charakteristischen Faktoren sprechen lassen. In einem so verhältnismäßig einfach gebauten Ländergebiet wie Rußland, wo die verschiedenen Landschaftstypen allmählich ineinander übergehen, ist es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/344
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/344>, abgerufen am 27.06.2024.