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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Politik

Kiautschau, eine Erinnerung und eine
Mahnung. Am 14. November, acht Tage
nach der japanischen "Eroberung" der deut¬
schen Hochburg in Ostasien, hätte Kiautschau
den siebzehnten Jahrestag deutscher Zuge¬
hörigkeit begehen können. Der Anlaß der
Besitzergreifung dieses deutschen Außenpostens
war bekanntlich die Ermordung zweier
deutscher Missionare in Schankung, deren
gewaltsamer Tod Deutschland zu einer der¬
artigen Sühneforderung berechtigte. In einem
Vertrage mit China vom 6. März 1898
wurde schließlich die Angelegenheit dahin ge¬
regelt, daß Deutschland aus Höflichkeilsrück¬
sichten die Bucht samt einem beschränkten
Hinterland auf neunundneunzig Jahre "Pach¬
tete". Nach den Darlegungen unserer Kolo¬
nialrechtswissenschaft konnte dagegen kein
Zweifel bestehen, daß diese formelle Okku¬
pation auch eine völkerrechtlich effektive ge¬
wesen ist"), die nach neunundneunzig Jahren
im besten Falle verlängert worden mare.
In politischer Beziehung war es freilich klug,
einen Akt kolonialer Besitzergreifung zu ver¬
meiden, denn dadurch wurde Japan und
England der Vorwand genommen, aus dem
deutschen Vorgehen eine Kriegsfrage zu machen.
Freilich ist zu bedenken, daß das Schwer¬
gewicht der deutsch-russisch-französischen En¬
tente während des japanisch - chinesischen

[Spaltenumbruch]

Krieges, als deren Folge die Erwerbung
eines chinesischen Stützpunktes zu betrachten
ist, einen nachdrücklichen japanisch - englischen
Widerspruch von vornherein zur Aussichts¬
losigkeit verurteilt hätte. Wie dem aber auch
sei -- diese Fragen sind ja heute nur noch
von akademischer Bedeutung -- der Charakter
unserer Handels- und Flottenstation in China
war von Haus aus ein völlig anderer als der
unserer übrigen Kolonien, weshalb auch diese
mehr Welt- als kolonialpolitische Schöpfung
folgerichtig nicht dem Kolonialamt, sondern
ihrem Urheber und Träger, dem Neichs-
marineamt, bis auf den Tag ihrer Vernich¬
tung unterstellt blieb").

Daß dieser scheinbar willkürlichen Besetzung
der lange vorher erwogene Plan zugrunde
lag, gleich England, Frankreich und Rußland
und auch kleineren Mächten, wie Portugal,
Spanien und Holland, im fernen Osten einen
marine- und wirtschaftspolitischen Stützpunkt
zu erlangen, dürfte einleuchten, selbst wenn
wir nichts näheres wüßten von der Vor¬
geschichte dieser Errichtung eines deutschen
Einfallstores zu dem riesigen chinesischen
Absatzgebiet, das der WettbeMerb aller Völker
seit langem umstreitet. Tatsächlich sind wir
aber in der glücklichen Lage, die Anfänge
dieser deutsch-asiatischen Pläne wenigstens im
Umriß zu erkennen.

[Ende Spaltensatz]
Kohner, Einführung in die Kolonial¬
politik 66; Hövermann, Kiautschau, Erwerb
und gegenwärtiger Rechtszustand.
") Vgl. Fürst Bülows Rede vom 8. Fe¬
bruar 1898, dazu die Werke von Richthofen,
Hesse - Wartegg, Welcker, Franzius, Kohner
und Schrameier.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Politik

Kiautschau, eine Erinnerung und eine
Mahnung. Am 14. November, acht Tage
nach der japanischen „Eroberung" der deut¬
schen Hochburg in Ostasien, hätte Kiautschau
den siebzehnten Jahrestag deutscher Zuge¬
hörigkeit begehen können. Der Anlaß der
Besitzergreifung dieses deutschen Außenpostens
war bekanntlich die Ermordung zweier
deutscher Missionare in Schankung, deren
gewaltsamer Tod Deutschland zu einer der¬
artigen Sühneforderung berechtigte. In einem
Vertrage mit China vom 6. März 1898
wurde schließlich die Angelegenheit dahin ge¬
regelt, daß Deutschland aus Höflichkeilsrück¬
sichten die Bucht samt einem beschränkten
Hinterland auf neunundneunzig Jahre „Pach¬
tete". Nach den Darlegungen unserer Kolo¬
nialrechtswissenschaft konnte dagegen kein
Zweifel bestehen, daß diese formelle Okku¬
pation auch eine völkerrechtlich effektive ge¬
wesen ist"), die nach neunundneunzig Jahren
im besten Falle verlängert worden mare.
In politischer Beziehung war es freilich klug,
einen Akt kolonialer Besitzergreifung zu ver¬
meiden, denn dadurch wurde Japan und
England der Vorwand genommen, aus dem
deutschen Vorgehen eine Kriegsfrage zu machen.
Freilich ist zu bedenken, daß das Schwer¬
gewicht der deutsch-russisch-französischen En¬
tente während des japanisch - chinesischen

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Krieges, als deren Folge die Erwerbung
eines chinesischen Stützpunktes zu betrachten
ist, einen nachdrücklichen japanisch - englischen
Widerspruch von vornherein zur Aussichts¬
losigkeit verurteilt hätte. Wie dem aber auch
sei — diese Fragen sind ja heute nur noch
von akademischer Bedeutung — der Charakter
unserer Handels- und Flottenstation in China
war von Haus aus ein völlig anderer als der
unserer übrigen Kolonien, weshalb auch diese
mehr Welt- als kolonialpolitische Schöpfung
folgerichtig nicht dem Kolonialamt, sondern
ihrem Urheber und Träger, dem Neichs-
marineamt, bis auf den Tag ihrer Vernich¬
tung unterstellt blieb").

Daß dieser scheinbar willkürlichen Besetzung
der lange vorher erwogene Plan zugrunde
lag, gleich England, Frankreich und Rußland
und auch kleineren Mächten, wie Portugal,
Spanien und Holland, im fernen Osten einen
marine- und wirtschaftspolitischen Stützpunkt
zu erlangen, dürfte einleuchten, selbst wenn
wir nichts näheres wüßten von der Vor¬
geschichte dieser Errichtung eines deutschen
Einfallstores zu dem riesigen chinesischen
Absatzgebiet, das der WettbeMerb aller Völker
seit langem umstreitet. Tatsächlich sind wir
aber in der glücklichen Lage, die Anfänge
dieser deutsch-asiatischen Pläne wenigstens im
Umriß zu erkennen.

[Ende Spaltensatz]
Kohner, Einführung in die Kolonial¬
politik 66; Hövermann, Kiautschau, Erwerb
und gegenwärtiger Rechtszustand.
") Vgl. Fürst Bülows Rede vom 8. Fe¬
bruar 1898, dazu die Werke von Richthofen,
Hesse - Wartegg, Welcker, Franzius, Kohner
und Schrameier.
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[0266] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Politik Kiautschau, eine Erinnerung und eine Mahnung. Am 14. November, acht Tage nach der japanischen „Eroberung" der deut¬ schen Hochburg in Ostasien, hätte Kiautschau den siebzehnten Jahrestag deutscher Zuge¬ hörigkeit begehen können. Der Anlaß der Besitzergreifung dieses deutschen Außenpostens war bekanntlich die Ermordung zweier deutscher Missionare in Schankung, deren gewaltsamer Tod Deutschland zu einer der¬ artigen Sühneforderung berechtigte. In einem Vertrage mit China vom 6. März 1898 wurde schließlich die Angelegenheit dahin ge¬ regelt, daß Deutschland aus Höflichkeilsrück¬ sichten die Bucht samt einem beschränkten Hinterland auf neunundneunzig Jahre „Pach¬ tete". Nach den Darlegungen unserer Kolo¬ nialrechtswissenschaft konnte dagegen kein Zweifel bestehen, daß diese formelle Okku¬ pation auch eine völkerrechtlich effektive ge¬ wesen ist"), die nach neunundneunzig Jahren im besten Falle verlängert worden mare. In politischer Beziehung war es freilich klug, einen Akt kolonialer Besitzergreifung zu ver¬ meiden, denn dadurch wurde Japan und England der Vorwand genommen, aus dem deutschen Vorgehen eine Kriegsfrage zu machen. Freilich ist zu bedenken, daß das Schwer¬ gewicht der deutsch-russisch-französischen En¬ tente während des japanisch - chinesischen Krieges, als deren Folge die Erwerbung eines chinesischen Stützpunktes zu betrachten ist, einen nachdrücklichen japanisch - englischen Widerspruch von vornherein zur Aussichts¬ losigkeit verurteilt hätte. Wie dem aber auch sei — diese Fragen sind ja heute nur noch von akademischer Bedeutung — der Charakter unserer Handels- und Flottenstation in China war von Haus aus ein völlig anderer als der unserer übrigen Kolonien, weshalb auch diese mehr Welt- als kolonialpolitische Schöpfung folgerichtig nicht dem Kolonialamt, sondern ihrem Urheber und Träger, dem Neichs- marineamt, bis auf den Tag ihrer Vernich¬ tung unterstellt blieb"). Daß dieser scheinbar willkürlichen Besetzung der lange vorher erwogene Plan zugrunde lag, gleich England, Frankreich und Rußland und auch kleineren Mächten, wie Portugal, Spanien und Holland, im fernen Osten einen marine- und wirtschaftspolitischen Stützpunkt zu erlangen, dürfte einleuchten, selbst wenn wir nichts näheres wüßten von der Vor¬ geschichte dieser Errichtung eines deutschen Einfallstores zu dem riesigen chinesischen Absatzgebiet, das der WettbeMerb aller Völker seit langem umstreitet. Tatsächlich sind wir aber in der glücklichen Lage, die Anfänge dieser deutsch-asiatischen Pläne wenigstens im Umriß zu erkennen. Kohner, Einführung in die Kolonial¬ politik 66; Hövermann, Kiautschau, Erwerb und gegenwärtiger Rechtszustand. ") Vgl. Fürst Bülows Rede vom 8. Fe¬ bruar 1898, dazu die Werke von Richthofen, Hesse - Wartegg, Welcker, Franzius, Kohner und Schrameier.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/266>, abgerufen am 27.06.2024.