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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Aulturproblem
Dr. Dragutin prohaska vonVI.
Die Lösung des Problems

Im Beginn unserer Ausführungen hoben wir den Gegensatz zwischen dem
Slawentum und dem europäischen Westen hervor. Doch unter der Hand
verwandelte sich uns das Slawentum in die Slawen, die Einheit in die Einzel¬
heiten. Nur ein Blick aus der Ferne kann die tiefen Unterschiede übersehen,
welche die slawischen Völker voneinander trennen. Die Entfernung ist der
Quell solcher optischen Täuschungen. Der ältere Bruder Lewins in "Anna
Karenina", der gelehrte Theoretiker Koznisew, änderte niemals seine Ansichten
über das Volk, denn Koznisew lebte fern vom Volke. Es gelang ihm immer,
Lewin zu besiegen, weil er ein sicheres Urteil über das Volk, über dessen
Charakter und Geschmack besaß, während Lewin keinerlei bestimmte und unab¬
änderliche Begriffe hatte, so daß Lewin im Streit "auf Widersprüche mit sich
selbst ertappt wurde". Gegen Widersprüche gefeit ist nur, wer nach einem
fertigen Schema arbeitet, wer kein Schema hat, läuft beständig Gefahr in
Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Dies nun ist auch mein Schicksal.
Mancher Leser, der dieses oder jenes besser kennt als ich, wird meine Charakteristiken
der Slawen schwerlich treffend finden, mir aber fällt es noch schwerer, bei diesen
Charakteristiken Halt zu machen, wenn ich neue Tatsachen, die sie ergänzen und
berichtigen, bemerke. Aber es gilt die Analyse nicht allzuweit zu treiben, sich nicht
in Widersprüche zu verlieren, weil man sonst auf den Standpunkt Lewins kommt,
der keinerlei bestimmte Begriffe hat. Die Charakteristik einer Kultur soll keine
Enzyklopädie über sie sein. Die Kultur ist nicht auf dem rationalen Wissen
einer Nation gegründet, sondern sie ist eine Synthese viel tiefer liegender Kräfte.
Die großen Schöpfer der Kultur waren schlichte Leute. Christus, Mohammed,
Buddha schätzten Ungelehrtheit und Naivität, ihre Kultur vermochte die Gelehrten
und Gebildeten ihrer Zeit nicht zu begeistern, denn das Wissen ist stolz, bescheiden
ist nur die Weisheit, "8cisnticl profans. -- KeZija 80M". Die Weisheit ist
heilig, das Wissen profan. Die Kultur eines Volkes ist seine Weisheit, nicht
aber sein Wissen und der Grad seiner Aufgeklärtheit.

Die Frage der slawischen Kultur ist die Frage der slawischen Art zu leben.
Leben kann man nur sein eigenes, nicht aber fremdes Leben, wissen aber vermag


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Das slawische Aulturproblem
Dr. Dragutin prohaska vonVI.
Die Lösung des Problems

Im Beginn unserer Ausführungen hoben wir den Gegensatz zwischen dem
Slawentum und dem europäischen Westen hervor. Doch unter der Hand
verwandelte sich uns das Slawentum in die Slawen, die Einheit in die Einzel¬
heiten. Nur ein Blick aus der Ferne kann die tiefen Unterschiede übersehen,
welche die slawischen Völker voneinander trennen. Die Entfernung ist der
Quell solcher optischen Täuschungen. Der ältere Bruder Lewins in „Anna
Karenina", der gelehrte Theoretiker Koznisew, änderte niemals seine Ansichten
über das Volk, denn Koznisew lebte fern vom Volke. Es gelang ihm immer,
Lewin zu besiegen, weil er ein sicheres Urteil über das Volk, über dessen
Charakter und Geschmack besaß, während Lewin keinerlei bestimmte und unab¬
änderliche Begriffe hatte, so daß Lewin im Streit „auf Widersprüche mit sich
selbst ertappt wurde". Gegen Widersprüche gefeit ist nur, wer nach einem
fertigen Schema arbeitet, wer kein Schema hat, läuft beständig Gefahr in
Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Dies nun ist auch mein Schicksal.
Mancher Leser, der dieses oder jenes besser kennt als ich, wird meine Charakteristiken
der Slawen schwerlich treffend finden, mir aber fällt es noch schwerer, bei diesen
Charakteristiken Halt zu machen, wenn ich neue Tatsachen, die sie ergänzen und
berichtigen, bemerke. Aber es gilt die Analyse nicht allzuweit zu treiben, sich nicht
in Widersprüche zu verlieren, weil man sonst auf den Standpunkt Lewins kommt,
der keinerlei bestimmte Begriffe hat. Die Charakteristik einer Kultur soll keine
Enzyklopädie über sie sein. Die Kultur ist nicht auf dem rationalen Wissen
einer Nation gegründet, sondern sie ist eine Synthese viel tiefer liegender Kräfte.
Die großen Schöpfer der Kultur waren schlichte Leute. Christus, Mohammed,
Buddha schätzten Ungelehrtheit und Naivität, ihre Kultur vermochte die Gelehrten
und Gebildeten ihrer Zeit nicht zu begeistern, denn das Wissen ist stolz, bescheiden
ist nur die Weisheit, „8cisnticl profans. — KeZija 80M". Die Weisheit ist
heilig, das Wissen profan. Die Kultur eines Volkes ist seine Weisheit, nicht
aber sein Wissen und der Grad seiner Aufgeklärtheit.

Die Frage der slawischen Kultur ist die Frage der slawischen Art zu leben.
Leben kann man nur sein eigenes, nicht aber fremdes Leben, wissen aber vermag


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[0255] [Abbildung] Das slawische Aulturproblem Dr. Dragutin prohaska vonVI. Die Lösung des Problems Im Beginn unserer Ausführungen hoben wir den Gegensatz zwischen dem Slawentum und dem europäischen Westen hervor. Doch unter der Hand verwandelte sich uns das Slawentum in die Slawen, die Einheit in die Einzel¬ heiten. Nur ein Blick aus der Ferne kann die tiefen Unterschiede übersehen, welche die slawischen Völker voneinander trennen. Die Entfernung ist der Quell solcher optischen Täuschungen. Der ältere Bruder Lewins in „Anna Karenina", der gelehrte Theoretiker Koznisew, änderte niemals seine Ansichten über das Volk, denn Koznisew lebte fern vom Volke. Es gelang ihm immer, Lewin zu besiegen, weil er ein sicheres Urteil über das Volk, über dessen Charakter und Geschmack besaß, während Lewin keinerlei bestimmte und unab¬ änderliche Begriffe hatte, so daß Lewin im Streit „auf Widersprüche mit sich selbst ertappt wurde". Gegen Widersprüche gefeit ist nur, wer nach einem fertigen Schema arbeitet, wer kein Schema hat, läuft beständig Gefahr in Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Dies nun ist auch mein Schicksal. Mancher Leser, der dieses oder jenes besser kennt als ich, wird meine Charakteristiken der Slawen schwerlich treffend finden, mir aber fällt es noch schwerer, bei diesen Charakteristiken Halt zu machen, wenn ich neue Tatsachen, die sie ergänzen und berichtigen, bemerke. Aber es gilt die Analyse nicht allzuweit zu treiben, sich nicht in Widersprüche zu verlieren, weil man sonst auf den Standpunkt Lewins kommt, der keinerlei bestimmte Begriffe hat. Die Charakteristik einer Kultur soll keine Enzyklopädie über sie sein. Die Kultur ist nicht auf dem rationalen Wissen einer Nation gegründet, sondern sie ist eine Synthese viel tiefer liegender Kräfte. Die großen Schöpfer der Kultur waren schlichte Leute. Christus, Mohammed, Buddha schätzten Ungelehrtheit und Naivität, ihre Kultur vermochte die Gelehrten und Gebildeten ihrer Zeit nicht zu begeistern, denn das Wissen ist stolz, bescheiden ist nur die Weisheit, „8cisnticl profans. — KeZija 80M". Die Weisheit ist heilig, das Wissen profan. Die Kultur eines Volkes ist seine Weisheit, nicht aber sein Wissen und der Grad seiner Aufgeklärtheit. Die Frage der slawischen Kultur ist die Frage der slawischen Art zu leben. Leben kann man nur sein eigenes, nicht aber fremdes Leben, wissen aber vermag 16-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/255>, abgerufen am 27.06.2024.