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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die kindliche Lüge
von Os. plin. All ton Heinrich Rose

üge ist bewußte Unwahrhafiigkeit mit der Absicht der Irreführung.
-- Die zwei Hauptmomente dieser allenthalben angenommenen
Definition, nämlich die Bewußtheit der Falschaussage und die
Absicht der Täuschung muß man sich ganz besonders deutlich vor
Augen halten, wenn man an die Psychoanalyse der kindlichen
Lüge gehen will, deren Ziel ja doch schließlich eine ethische Wertung und
pädagogische Unterweisung sind. Wer dabei glaubt, diese Anforderung,
als zu pedantisch, ruhig beiseite lassen zu können, gibt sich einer, der Sach¬
aufklärung zum Nachteil gereichenden Selbsttäuschung hin; er wird allerlei, das
harmlos ist, schon verdammen und zu erzieherischen Maßnahmen kommen, die
schaden, statt nützen. Der Erwachsene macht sehr leicht den Fehler, seine ent¬
wickelte moralische Empfindung in die Handlungsweise des Kindes hinein¬
zudenken und danach zu urteilen. Vieles, was man gemeinhin als Lüge ansieht,
ist oft nur das Ergebnis mangelnden Ausdrucks- oder Erinnerungsvermögens
ganz Jugendlicher. Hier heißt es, scharf aufzumerken und Scheinlüge von
wirklicher Lüge deutlich zu unterscheiden. Wenn die mittelalterliche Theologie
und deren moderne Anhänger dies getan hätten, so wären sie nicht zu der
törichten Auffassung gekommen, daß die Lüge dem Menschen angeboren sei.
ganz abgesehen von der ja allerdings durch oberflächliche Analyse wirklicher
Tatsachen scheinbar bestätigten Behauptung, daß die Lügenhaftigkeit der Kinder
zunehme mit ihrem körperlichen Wachstum. Anderseits ist es entschieden auch
zu weit gegangen, wenn man mit Rousseau die Kinder für Engel erklären wollte,
deren Reinheit erst durch die verderbten Einflüsse der Erwachsenen beschmutzt
würde. I. Trüper (Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik Bd. V, 1906,
herausgegeben von W. Nein. S. 674) versucht, die goldene Mittelstraße zu gehen,
indem er meint, daß die moralischen wie die unmoralischen Eigenschaften "des
Kindes bei der Geburt gleich Null sind" und sich erst nach und nach entwickeln;
es besitzt das Kind "die natürliche Fähigkeit, moralisch oder unmoralisch zu
werden". -- William Stern, der weithin bekannte und geschätzte Breslauer
Professor, weiß uns das Problem weniger schön - spekulativ, aber tatsachen¬
zwingend zu lösen. Es handelt sich nach seiner Ansicht bei der kindlichen Lüge




Die kindliche Lüge
von Os. plin. All ton Heinrich Rose

üge ist bewußte Unwahrhafiigkeit mit der Absicht der Irreführung.
— Die zwei Hauptmomente dieser allenthalben angenommenen
Definition, nämlich die Bewußtheit der Falschaussage und die
Absicht der Täuschung muß man sich ganz besonders deutlich vor
Augen halten, wenn man an die Psychoanalyse der kindlichen
Lüge gehen will, deren Ziel ja doch schließlich eine ethische Wertung und
pädagogische Unterweisung sind. Wer dabei glaubt, diese Anforderung,
als zu pedantisch, ruhig beiseite lassen zu können, gibt sich einer, der Sach¬
aufklärung zum Nachteil gereichenden Selbsttäuschung hin; er wird allerlei, das
harmlos ist, schon verdammen und zu erzieherischen Maßnahmen kommen, die
schaden, statt nützen. Der Erwachsene macht sehr leicht den Fehler, seine ent¬
wickelte moralische Empfindung in die Handlungsweise des Kindes hinein¬
zudenken und danach zu urteilen. Vieles, was man gemeinhin als Lüge ansieht,
ist oft nur das Ergebnis mangelnden Ausdrucks- oder Erinnerungsvermögens
ganz Jugendlicher. Hier heißt es, scharf aufzumerken und Scheinlüge von
wirklicher Lüge deutlich zu unterscheiden. Wenn die mittelalterliche Theologie
und deren moderne Anhänger dies getan hätten, so wären sie nicht zu der
törichten Auffassung gekommen, daß die Lüge dem Menschen angeboren sei.
ganz abgesehen von der ja allerdings durch oberflächliche Analyse wirklicher
Tatsachen scheinbar bestätigten Behauptung, daß die Lügenhaftigkeit der Kinder
zunehme mit ihrem körperlichen Wachstum. Anderseits ist es entschieden auch
zu weit gegangen, wenn man mit Rousseau die Kinder für Engel erklären wollte,
deren Reinheit erst durch die verderbten Einflüsse der Erwachsenen beschmutzt
würde. I. Trüper (Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik Bd. V, 1906,
herausgegeben von W. Nein. S. 674) versucht, die goldene Mittelstraße zu gehen,
indem er meint, daß die moralischen wie die unmoralischen Eigenschaften „des
Kindes bei der Geburt gleich Null sind" und sich erst nach und nach entwickeln;
es besitzt das Kind „die natürliche Fähigkeit, moralisch oder unmoralisch zu
werden". — William Stern, der weithin bekannte und geschätzte Breslauer
Professor, weiß uns das Problem weniger schön - spekulativ, aber tatsachen¬
zwingend zu lösen. Es handelt sich nach seiner Ansicht bei der kindlichen Lüge


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[0076] [Abbildung] Die kindliche Lüge von Os. plin. All ton Heinrich Rose üge ist bewußte Unwahrhafiigkeit mit der Absicht der Irreführung. — Die zwei Hauptmomente dieser allenthalben angenommenen Definition, nämlich die Bewußtheit der Falschaussage und die Absicht der Täuschung muß man sich ganz besonders deutlich vor Augen halten, wenn man an die Psychoanalyse der kindlichen Lüge gehen will, deren Ziel ja doch schließlich eine ethische Wertung und pädagogische Unterweisung sind. Wer dabei glaubt, diese Anforderung, als zu pedantisch, ruhig beiseite lassen zu können, gibt sich einer, der Sach¬ aufklärung zum Nachteil gereichenden Selbsttäuschung hin; er wird allerlei, das harmlos ist, schon verdammen und zu erzieherischen Maßnahmen kommen, die schaden, statt nützen. Der Erwachsene macht sehr leicht den Fehler, seine ent¬ wickelte moralische Empfindung in die Handlungsweise des Kindes hinein¬ zudenken und danach zu urteilen. Vieles, was man gemeinhin als Lüge ansieht, ist oft nur das Ergebnis mangelnden Ausdrucks- oder Erinnerungsvermögens ganz Jugendlicher. Hier heißt es, scharf aufzumerken und Scheinlüge von wirklicher Lüge deutlich zu unterscheiden. Wenn die mittelalterliche Theologie und deren moderne Anhänger dies getan hätten, so wären sie nicht zu der törichten Auffassung gekommen, daß die Lüge dem Menschen angeboren sei. ganz abgesehen von der ja allerdings durch oberflächliche Analyse wirklicher Tatsachen scheinbar bestätigten Behauptung, daß die Lügenhaftigkeit der Kinder zunehme mit ihrem körperlichen Wachstum. Anderseits ist es entschieden auch zu weit gegangen, wenn man mit Rousseau die Kinder für Engel erklären wollte, deren Reinheit erst durch die verderbten Einflüsse der Erwachsenen beschmutzt würde. I. Trüper (Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik Bd. V, 1906, herausgegeben von W. Nein. S. 674) versucht, die goldene Mittelstraße zu gehen, indem er meint, daß die moralischen wie die unmoralischen Eigenschaften „des Kindes bei der Geburt gleich Null sind" und sich erst nach und nach entwickeln; es besitzt das Kind „die natürliche Fähigkeit, moralisch oder unmoralisch zu werden". — William Stern, der weithin bekannte und geschätzte Breslauer Professor, weiß uns das Problem weniger schön - spekulativ, aber tatsachen¬ zwingend zu lösen. Es handelt sich nach seiner Ansicht bei der kindlichen Lüge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/76>, abgerufen am 01.09.2024.