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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens
skizziert an der Hand von Müller-5yers j)hasenwerk
von Professor Dr. Alfred vicrtandt

üller-Lyers Phasenwerk hat, können wir sagen, die Gesetzmäßigkeit
des geschichtlichen Lebens zum Gegenstand*), Sie bildet einen
alten Streitpunkt. Der Historiker selbst kümmert sich von Haus
aus nicht um sie, er geht ja gerade auf das Historische, d. h. auf
das Eigenartige und Einzigartige eines bestimmten Zeitalters oder
einer historischen Persönlichkeit aus; vielmehr hat die Geschichtsphilosophie den
Gedanken der Gesetzmäßigkeit zur Geltung gebracht. Man kann dabei zwei
Richtungen unterscheiden, eine radikale und eine gemäßigte. Die radikale ver¬
kennt das Wesen der historischen Individualität und damit die höchsten Werte
des geistigen Lebens, die eben in dieser Individualität wurzeln. Eben diese
Werte im Gebiete der Kunst, der Literatur, der Philosophie und überhaupt des
ganzen geistigen Lebens herauszuarbeiten, wird heute immer mehr als eine
wesentliche Aufgabe der geschichtlichen Disziplinen anerkannt. In Frage
kommen kann nur die gemäßigte Richtung der Gesetze suchenden Geschichts¬
philosophie, der heute außer Philosophen wohl durchgängig die Vertreter der
sogenannten systematischen oder vergleichenden Geisteswissenschaften und auch
bereits manche Vertreter der historischen Wissenschaften selbst angehören. Inhaltlich
unterscheidet diese Richtung die individuellen und die generellen Bestandteile
in den geschichtlichen Tatsachen und gesteht damit sowohl der individualistischen
wie der entgegengesetzten Richtung gewisse Rechte zu. Ihre logische Begründung
aber beruht letzthin auf der Anwendung der kritischen Denkweise auf die vor¬
liegenden Probleme. Denn die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeiten im geschicht¬
lichen Leben von vornherein zu bestreiten ist ein Dogmatismus. Man hat
mindestens das Recht zu fragen, ob uicht solche Gesetzmäßigkeiten vorkommen.
Aber es ist zugleich auch eine intellektuelle Pflicht dies zu tun, denn die
Gesetzmäßigkeit der Dinge ist für den denkenden Menschengeist ein Postulat.
Für die wissenschaftliche Denkweise ist die Welt ein Kosmos, ein geord¬
netes in sich zusammenhängendes und einheitlich aufgebautes Ganzes: mit
dieser Forderung und Voraussetzung muß der Intellekt an die Dinge
herantreten, um überhaupt forschen zu können. Wieweit sich die Forderung



") Vergl. den Aussatz desselben Verfassers über "Soziologie" in Heft 35 d. I.
Grenzboten III 1914 32


Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens
skizziert an der Hand von Müller-5yers j)hasenwerk
von Professor Dr. Alfred vicrtandt

üller-Lyers Phasenwerk hat, können wir sagen, die Gesetzmäßigkeit
des geschichtlichen Lebens zum Gegenstand*), Sie bildet einen
alten Streitpunkt. Der Historiker selbst kümmert sich von Haus
aus nicht um sie, er geht ja gerade auf das Historische, d. h. auf
das Eigenartige und Einzigartige eines bestimmten Zeitalters oder
einer historischen Persönlichkeit aus; vielmehr hat die Geschichtsphilosophie den
Gedanken der Gesetzmäßigkeit zur Geltung gebracht. Man kann dabei zwei
Richtungen unterscheiden, eine radikale und eine gemäßigte. Die radikale ver¬
kennt das Wesen der historischen Individualität und damit die höchsten Werte
des geistigen Lebens, die eben in dieser Individualität wurzeln. Eben diese
Werte im Gebiete der Kunst, der Literatur, der Philosophie und überhaupt des
ganzen geistigen Lebens herauszuarbeiten, wird heute immer mehr als eine
wesentliche Aufgabe der geschichtlichen Disziplinen anerkannt. In Frage
kommen kann nur die gemäßigte Richtung der Gesetze suchenden Geschichts¬
philosophie, der heute außer Philosophen wohl durchgängig die Vertreter der
sogenannten systematischen oder vergleichenden Geisteswissenschaften und auch
bereits manche Vertreter der historischen Wissenschaften selbst angehören. Inhaltlich
unterscheidet diese Richtung die individuellen und die generellen Bestandteile
in den geschichtlichen Tatsachen und gesteht damit sowohl der individualistischen
wie der entgegengesetzten Richtung gewisse Rechte zu. Ihre logische Begründung
aber beruht letzthin auf der Anwendung der kritischen Denkweise auf die vor¬
liegenden Probleme. Denn die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeiten im geschicht¬
lichen Leben von vornherein zu bestreiten ist ein Dogmatismus. Man hat
mindestens das Recht zu fragen, ob uicht solche Gesetzmäßigkeiten vorkommen.
Aber es ist zugleich auch eine intellektuelle Pflicht dies zu tun, denn die
Gesetzmäßigkeit der Dinge ist für den denkenden Menschengeist ein Postulat.
Für die wissenschaftliche Denkweise ist die Welt ein Kosmos, ein geord¬
netes in sich zusammenhängendes und einheitlich aufgebautes Ganzes: mit
dieser Forderung und Voraussetzung muß der Intellekt an die Dinge
herantreten, um überhaupt forschen zu können. Wieweit sich die Forderung



") Vergl. den Aussatz desselben Verfassers über „Soziologie" in Heft 35 d. I.
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[0473] [Abbildung] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens skizziert an der Hand von Müller-5yers j)hasenwerk von Professor Dr. Alfred vicrtandt üller-Lyers Phasenwerk hat, können wir sagen, die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens zum Gegenstand*), Sie bildet einen alten Streitpunkt. Der Historiker selbst kümmert sich von Haus aus nicht um sie, er geht ja gerade auf das Historische, d. h. auf das Eigenartige und Einzigartige eines bestimmten Zeitalters oder einer historischen Persönlichkeit aus; vielmehr hat die Geschichtsphilosophie den Gedanken der Gesetzmäßigkeit zur Geltung gebracht. Man kann dabei zwei Richtungen unterscheiden, eine radikale und eine gemäßigte. Die radikale ver¬ kennt das Wesen der historischen Individualität und damit die höchsten Werte des geistigen Lebens, die eben in dieser Individualität wurzeln. Eben diese Werte im Gebiete der Kunst, der Literatur, der Philosophie und überhaupt des ganzen geistigen Lebens herauszuarbeiten, wird heute immer mehr als eine wesentliche Aufgabe der geschichtlichen Disziplinen anerkannt. In Frage kommen kann nur die gemäßigte Richtung der Gesetze suchenden Geschichts¬ philosophie, der heute außer Philosophen wohl durchgängig die Vertreter der sogenannten systematischen oder vergleichenden Geisteswissenschaften und auch bereits manche Vertreter der historischen Wissenschaften selbst angehören. Inhaltlich unterscheidet diese Richtung die individuellen und die generellen Bestandteile in den geschichtlichen Tatsachen und gesteht damit sowohl der individualistischen wie der entgegengesetzten Richtung gewisse Rechte zu. Ihre logische Begründung aber beruht letzthin auf der Anwendung der kritischen Denkweise auf die vor¬ liegenden Probleme. Denn die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeiten im geschicht¬ lichen Leben von vornherein zu bestreiten ist ein Dogmatismus. Man hat mindestens das Recht zu fragen, ob uicht solche Gesetzmäßigkeiten vorkommen. Aber es ist zugleich auch eine intellektuelle Pflicht dies zu tun, denn die Gesetzmäßigkeit der Dinge ist für den denkenden Menschengeist ein Postulat. Für die wissenschaftliche Denkweise ist die Welt ein Kosmos, ein geord¬ netes in sich zusammenhängendes und einheitlich aufgebautes Ganzes: mit dieser Forderung und Voraussetzung muß der Intellekt an die Dinge herantreten, um überhaupt forschen zu können. Wieweit sich die Forderung ") Vergl. den Aussatz desselben Verfassers über „Soziologie" in Heft 35 d. I. Grenzboten III 1914 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/473>, abgerufen am 13.11.2024.