Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Vom (Lharakter der Franzosen
Von Richard Freyen

n jedem Volke laufen über jedes andere Urteile um, die dessen
Charakter, Gewohnheiten, Sitten in eine mehr oder weniger feste
Formel pressen, und die von größtem Einfluß auf das gesamte
internationale Leben sind. Es ist ein seltsames Ding mit diesen
Allgemeinurteilen, sie stimmen, auf das Individuum angewandt,
fast niemals, sind oft sogar ganz falsch, einseitig, entstellt, von Haß und nur
selten von Liebe verzerrt. Und dennoch, obgleich oder oft gerade auch weil sie
falsch sind, sind sie von allergrößter Bedeutung.

Wie fadenscheinig und schief die meisten dieser Urteile sind, weiß jeder,
der länger in einer fremden Nation gelebt hat und viele Angehörige derselben
wirklich mit unbefangenem Blick beobachtet hat. Gewöhnlich glaubt jeder
Deutsche, der nie in England gewesen ist, ganz genau "den Engländer" zu kennen,
und wer nie Rußlands Boden betreten, nie mit einem Russen gesprochen hat,
lacht doch über "den Russen", wobei er eine vage Vorstellung von einem un¬
gepflegten Bart, Wotki, platter Nase und vor allem unendlich vielen: Schmutz hat.
Hört man dagegen Leute, die länger im fremden Lande geweilt haben, so ergibt sich
meist ein viel komplizierteres Bild. Gewiß bilden auch solche Leute sich ost ein
klischeehaftes Allgemeinbild, aber es ist meist diametral dem landläufige,: ent¬
gegengesetzt, woraus sich schon zur Genüge ergeben dürfte, daß es ganz so
einfach nicht ist, ein wirkliches Bild des fremden Volkes zu haben. Je mehr
man die Engländer, die Franzosen usw. kennen lernt, um so weniger zuver¬
sichtlich wird man im allgemeinen über den Engländer, den Franzosen usw.
Aussagen machen können.

Das liegt vor allem daran, daß man bei genauem Hinsehen auch die
unendlichen Verschiedenheiten beachten lernt, die neben gewissen oberflächlich sich
darstellenden typischen Zügen sür den Charakter ebenfalls von größter Bedeutung
sind. Es kommt -ferner hinzu, daß ganze Völker Sitten und Gewohnheiten
annehmen oder beibehalten, die ihrem innersten Wesen nicht entsprechen. Es
geht nicht an. aus Sitten und Gewohnheiten stets auf den Charakter zu schließen.
Wir würden beim einzelnen Menschen eine solche Beurteilung töricht finden.
Wir werden niemals einen Einzelnicnschen bloß nach seiner Redeweise, gewissen




Vom (Lharakter der Franzosen
Von Richard Freyen

n jedem Volke laufen über jedes andere Urteile um, die dessen
Charakter, Gewohnheiten, Sitten in eine mehr oder weniger feste
Formel pressen, und die von größtem Einfluß auf das gesamte
internationale Leben sind. Es ist ein seltsames Ding mit diesen
Allgemeinurteilen, sie stimmen, auf das Individuum angewandt,
fast niemals, sind oft sogar ganz falsch, einseitig, entstellt, von Haß und nur
selten von Liebe verzerrt. Und dennoch, obgleich oder oft gerade auch weil sie
falsch sind, sind sie von allergrößter Bedeutung.

Wie fadenscheinig und schief die meisten dieser Urteile sind, weiß jeder,
der länger in einer fremden Nation gelebt hat und viele Angehörige derselben
wirklich mit unbefangenem Blick beobachtet hat. Gewöhnlich glaubt jeder
Deutsche, der nie in England gewesen ist, ganz genau „den Engländer" zu kennen,
und wer nie Rußlands Boden betreten, nie mit einem Russen gesprochen hat,
lacht doch über „den Russen", wobei er eine vage Vorstellung von einem un¬
gepflegten Bart, Wotki, platter Nase und vor allem unendlich vielen: Schmutz hat.
Hört man dagegen Leute, die länger im fremden Lande geweilt haben, so ergibt sich
meist ein viel komplizierteres Bild. Gewiß bilden auch solche Leute sich ost ein
klischeehaftes Allgemeinbild, aber es ist meist diametral dem landläufige,: ent¬
gegengesetzt, woraus sich schon zur Genüge ergeben dürfte, daß es ganz so
einfach nicht ist, ein wirkliches Bild des fremden Volkes zu haben. Je mehr
man die Engländer, die Franzosen usw. kennen lernt, um so weniger zuver¬
sichtlich wird man im allgemeinen über den Engländer, den Franzosen usw.
Aussagen machen können.

Das liegt vor allem daran, daß man bei genauem Hinsehen auch die
unendlichen Verschiedenheiten beachten lernt, die neben gewissen oberflächlich sich
darstellenden typischen Zügen sür den Charakter ebenfalls von größter Bedeutung
sind. Es kommt -ferner hinzu, daß ganze Völker Sitten und Gewohnheiten
annehmen oder beibehalten, die ihrem innersten Wesen nicht entsprechen. Es
geht nicht an. aus Sitten und Gewohnheiten stets auf den Charakter zu schließen.
Wir würden beim einzelnen Menschen eine solche Beurteilung töricht finden.
Wir werden niemals einen Einzelnicnschen bloß nach seiner Redeweise, gewissen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0337" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329071"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_328733/figures/grenzboten_341899_328733_329071_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Vom (Lharakter der Franzosen<lb/><note type="byline"> Von Richard Freyen</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1148"> n jedem Volke laufen über jedes andere Urteile um, die dessen<lb/>
Charakter, Gewohnheiten, Sitten in eine mehr oder weniger feste<lb/>
Formel pressen, und die von größtem Einfluß auf das gesamte<lb/>
internationale Leben sind. Es ist ein seltsames Ding mit diesen<lb/>
Allgemeinurteilen, sie stimmen, auf das Individuum angewandt,<lb/>
fast niemals, sind oft sogar ganz falsch, einseitig, entstellt, von Haß und nur<lb/>
selten von Liebe verzerrt. Und dennoch, obgleich oder oft gerade auch weil sie<lb/>
falsch sind, sind sie von allergrößter Bedeutung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1149"> Wie fadenscheinig und schief die meisten dieser Urteile sind, weiß jeder,<lb/>
der länger in einer fremden Nation gelebt hat und viele Angehörige derselben<lb/>
wirklich mit unbefangenem Blick beobachtet hat. Gewöhnlich glaubt jeder<lb/>
Deutsche, der nie in England gewesen ist, ganz genau &#x201E;den Engländer" zu kennen,<lb/>
und wer nie Rußlands Boden betreten, nie mit einem Russen gesprochen hat,<lb/>
lacht doch über &#x201E;den Russen", wobei er eine vage Vorstellung von einem un¬<lb/>
gepflegten Bart, Wotki, platter Nase und vor allem unendlich vielen: Schmutz hat.<lb/>
Hört man dagegen Leute, die länger im fremden Lande geweilt haben, so ergibt sich<lb/>
meist ein viel komplizierteres Bild. Gewiß bilden auch solche Leute sich ost ein<lb/>
klischeehaftes Allgemeinbild, aber es ist meist diametral dem landläufige,: ent¬<lb/>
gegengesetzt, woraus sich schon zur Genüge ergeben dürfte, daß es ganz so<lb/>
einfach nicht ist, ein wirkliches Bild des fremden Volkes zu haben. Je mehr<lb/>
man die Engländer, die Franzosen usw. kennen lernt, um so weniger zuver¬<lb/>
sichtlich wird man im allgemeinen über den Engländer, den Franzosen usw.<lb/>
Aussagen machen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1150" next="#ID_1151"> Das liegt vor allem daran, daß man bei genauem Hinsehen auch die<lb/>
unendlichen Verschiedenheiten beachten lernt, die neben gewissen oberflächlich sich<lb/>
darstellenden typischen Zügen sür den Charakter ebenfalls von größter Bedeutung<lb/>
sind. Es kommt -ferner hinzu, daß ganze Völker Sitten und Gewohnheiten<lb/>
annehmen oder beibehalten, die ihrem innersten Wesen nicht entsprechen. Es<lb/>
geht nicht an. aus Sitten und Gewohnheiten stets auf den Charakter zu schließen.<lb/>
Wir würden beim einzelnen Menschen eine solche Beurteilung töricht finden.<lb/>
Wir werden niemals einen Einzelnicnschen bloß nach seiner Redeweise, gewissen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0337] [Abbildung] Vom (Lharakter der Franzosen Von Richard Freyen n jedem Volke laufen über jedes andere Urteile um, die dessen Charakter, Gewohnheiten, Sitten in eine mehr oder weniger feste Formel pressen, und die von größtem Einfluß auf das gesamte internationale Leben sind. Es ist ein seltsames Ding mit diesen Allgemeinurteilen, sie stimmen, auf das Individuum angewandt, fast niemals, sind oft sogar ganz falsch, einseitig, entstellt, von Haß und nur selten von Liebe verzerrt. Und dennoch, obgleich oder oft gerade auch weil sie falsch sind, sind sie von allergrößter Bedeutung. Wie fadenscheinig und schief die meisten dieser Urteile sind, weiß jeder, der länger in einer fremden Nation gelebt hat und viele Angehörige derselben wirklich mit unbefangenem Blick beobachtet hat. Gewöhnlich glaubt jeder Deutsche, der nie in England gewesen ist, ganz genau „den Engländer" zu kennen, und wer nie Rußlands Boden betreten, nie mit einem Russen gesprochen hat, lacht doch über „den Russen", wobei er eine vage Vorstellung von einem un¬ gepflegten Bart, Wotki, platter Nase und vor allem unendlich vielen: Schmutz hat. Hört man dagegen Leute, die länger im fremden Lande geweilt haben, so ergibt sich meist ein viel komplizierteres Bild. Gewiß bilden auch solche Leute sich ost ein klischeehaftes Allgemeinbild, aber es ist meist diametral dem landläufige,: ent¬ gegengesetzt, woraus sich schon zur Genüge ergeben dürfte, daß es ganz so einfach nicht ist, ein wirkliches Bild des fremden Volkes zu haben. Je mehr man die Engländer, die Franzosen usw. kennen lernt, um so weniger zuver¬ sichtlich wird man im allgemeinen über den Engländer, den Franzosen usw. Aussagen machen können. Das liegt vor allem daran, daß man bei genauem Hinsehen auch die unendlichen Verschiedenheiten beachten lernt, die neben gewissen oberflächlich sich darstellenden typischen Zügen sür den Charakter ebenfalls von größter Bedeutung sind. Es kommt -ferner hinzu, daß ganze Völker Sitten und Gewohnheiten annehmen oder beibehalten, die ihrem innersten Wesen nicht entsprechen. Es geht nicht an. aus Sitten und Gewohnheiten stets auf den Charakter zu schließen. Wir würden beim einzelnen Menschen eine solche Beurteilung töricht finden. Wir werden niemals einen Einzelnicnschen bloß nach seiner Redeweise, gewissen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/337
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/337>, abgerufen am 13.11.2024.