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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grmidzüge einer Literaturbeurteilmig

nicht des Volkstums, wie Bartels will, in die Hand geben. Die wichtige und
allgemeingültige Anwendung des Kompasses beruht aber wieder in der Persön¬
lichkeit. Ihr sind wir also voll anvertraut. Wir werden sehen, wie sich aus
ihrem Wesen und aus ihrer Aufgabe eine bestimmte Richtschnur für die An¬
wendung des Kompasses organisch ergibt.


II.
Goethe und Bartels

Das Volkstum ist Triebkraft alles "Getriebener", oder in besserem Stil
gesagt: alles Ursprünglichen. Jede Persönlichkeit ist nun zuerst ursprünglich,
"original", das heißt, sie hängt mit dem Wesen des Volkes, dem sie entstammt,
eng zusammen. Jedes Volk ist sich durch das Erleben -- nicht durch den
Instinkt, denn man frage einmal einen deutschen Jnstinktmenschen, der Goethe
nicht erlebt hat, ob er ihn als spezifisch deutsche Persönlichkeit fühlt -- über
Gehalt und Form seiner Persönlichkeit klar und bringt sie sich in bestimmten
Menschen zur Anschauung: die Deutschen in Goethe. Das weiß jeder Gebildete
in unserem Volke. Bartels analysiert darum in der Einleitung (I, 1 bis 16)
zu seiner Weltliteratur den Dichtermenschen Goethe.

Die Erklärung, warum Goethe mit allen seinen Eigenschaften und "in
vollendeter, harmonischer Wesenseinheit" die allseitige deutsche Persönlichkeit
darstellt, kann ich übergehen. Sie ist einmal allzu flüchtig. Sodann rein
hypothetisch, wenn sie behauptet, Goethe sei "die glückliche Vereinigung ver¬
schiedener deutscher Stämme, der Franken, Thüringer, Niedersachsen", da alle
Rassenforschung wenigstens für unsere Zeit, für das achtzehnte Jahrhundert im
Gegensatz zu ihrer Geltung für die Vorgeschichte als hypothetisch anzusehen ist.
Schließlich ist die Aneinanderreihung verschiedener Milieustusen, die die Ahnen
Goethes eingenommen haben, in ihrer Wirkung für die Nachkommen auch un¬
beweisbar. Solche Behauptungen dürfen gewiß aufgestellt werden, haben aber
nie den Wert ursächlicher Erklärungen und Beweise. Die Aufgabe heißt ja
auch in der Einleitung nicht, Goethes Werden, sondern seine ganze Erscheinung
darzustellen. Ihr allgemeinstes Wesen trifft Bartels wie viele vor ihm, wenn
er Goethe den "typischen Dichter" und "Universalmenschen" (I, S. 8) nennt
und beide Begriffe als eine untrennbare, immanente Wesenseinheit hinstellt.
Die Bartelssche subjektive Anschauung, die bestrebt ist, alle Dichtung in Natur-
und Kulturproduktion einzuteilen -- weshalb, werden wir noch sehen --, meldet
sich darin, daß er den Begriff der typischen Dichter wieder auf Goethe in den
Begriff des Kulturpoeten -- im Gegensatze zu Shakespeare -- hineinspezialistert.
Ganz abgesehen davon, daß es schwer festzustellen ist, ob Shakespeare nicht auch
Kulturpoet war, denn hier mangelt das notwendigste biographische Material,
schufen die Zeit und das Milieu des großen Dramatikers nicht die Bedingungen,
die erst den Begriff des Kulturpoeten, seine Entwicklung zulassen. Seit dem
Zeitalter der Aufklärung wird jeder Poet, sei er auch noch so naturhaft, stets


Die Grmidzüge einer Literaturbeurteilmig

nicht des Volkstums, wie Bartels will, in die Hand geben. Die wichtige und
allgemeingültige Anwendung des Kompasses beruht aber wieder in der Persön¬
lichkeit. Ihr sind wir also voll anvertraut. Wir werden sehen, wie sich aus
ihrem Wesen und aus ihrer Aufgabe eine bestimmte Richtschnur für die An¬
wendung des Kompasses organisch ergibt.


II.
Goethe und Bartels

Das Volkstum ist Triebkraft alles „Getriebener", oder in besserem Stil
gesagt: alles Ursprünglichen. Jede Persönlichkeit ist nun zuerst ursprünglich,
„original", das heißt, sie hängt mit dem Wesen des Volkes, dem sie entstammt,
eng zusammen. Jedes Volk ist sich durch das Erleben — nicht durch den
Instinkt, denn man frage einmal einen deutschen Jnstinktmenschen, der Goethe
nicht erlebt hat, ob er ihn als spezifisch deutsche Persönlichkeit fühlt — über
Gehalt und Form seiner Persönlichkeit klar und bringt sie sich in bestimmten
Menschen zur Anschauung: die Deutschen in Goethe. Das weiß jeder Gebildete
in unserem Volke. Bartels analysiert darum in der Einleitung (I, 1 bis 16)
zu seiner Weltliteratur den Dichtermenschen Goethe.

Die Erklärung, warum Goethe mit allen seinen Eigenschaften und „in
vollendeter, harmonischer Wesenseinheit" die allseitige deutsche Persönlichkeit
darstellt, kann ich übergehen. Sie ist einmal allzu flüchtig. Sodann rein
hypothetisch, wenn sie behauptet, Goethe sei „die glückliche Vereinigung ver¬
schiedener deutscher Stämme, der Franken, Thüringer, Niedersachsen", da alle
Rassenforschung wenigstens für unsere Zeit, für das achtzehnte Jahrhundert im
Gegensatz zu ihrer Geltung für die Vorgeschichte als hypothetisch anzusehen ist.
Schließlich ist die Aneinanderreihung verschiedener Milieustusen, die die Ahnen
Goethes eingenommen haben, in ihrer Wirkung für die Nachkommen auch un¬
beweisbar. Solche Behauptungen dürfen gewiß aufgestellt werden, haben aber
nie den Wert ursächlicher Erklärungen und Beweise. Die Aufgabe heißt ja
auch in der Einleitung nicht, Goethes Werden, sondern seine ganze Erscheinung
darzustellen. Ihr allgemeinstes Wesen trifft Bartels wie viele vor ihm, wenn
er Goethe den „typischen Dichter" und „Universalmenschen" (I, S. 8) nennt
und beide Begriffe als eine untrennbare, immanente Wesenseinheit hinstellt.
Die Bartelssche subjektive Anschauung, die bestrebt ist, alle Dichtung in Natur-
und Kulturproduktion einzuteilen — weshalb, werden wir noch sehen —, meldet
sich darin, daß er den Begriff der typischen Dichter wieder auf Goethe in den
Begriff des Kulturpoeten — im Gegensatze zu Shakespeare — hineinspezialistert.
Ganz abgesehen davon, daß es schwer festzustellen ist, ob Shakespeare nicht auch
Kulturpoet war, denn hier mangelt das notwendigste biographische Material,
schufen die Zeit und das Milieu des großen Dramatikers nicht die Bedingungen,
die erst den Begriff des Kulturpoeten, seine Entwicklung zulassen. Seit dem
Zeitalter der Aufklärung wird jeder Poet, sei er auch noch so naturhaft, stets


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/462>, abgerufen am 13.11.2024.