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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung
Aus Anlaß der "Einführung in die Weltliteratur" von Adolf Bartels
Hanns Martin Lister von
I.
Die Dichtung und ihre Verwaltung

iteratur ist Lebensoffenbarung in Sprache und Schrift, in Wort
und Druck, nicht nur in der jüngsten Zeit und Gegenwart,
sondern bereits von jeher.

Diese Definition hat an dem Anfang jeder Beschäftigung
mit der Dichtung eines Volkes und der Welt zu stehen, also auch
vorzüglich die Grundlage ihrer Wissenschaft und ihrer Beurteilung zu bilden.
Nur eine Verkennung dieser Definition konnte eine Veränderung der Gesinnung,
in der alle Literatur zu verwalten ist, hervorrufen und die Literaturwissenschaft
zu einer ausschließlich historischen Disziplin machen, die sie ihrem Stoffe und
Wesen nach gar nicht sein kann, weil das Historische nur einen Teil der Auf¬
gabe zu fassen vermag: die Behandlung der Form ini engeren und weiteren
Sinne durch die philologische Methode. Die Hauptaufgabe aller Literatur¬
wissenschaft ist jedoch nichts weniger als die allseitige Verwaltung dieses
geistigen Besitzes eines Volkes.

Denn das Schrifttum und in ihm als sein Extrakt die Dichtung umfaßt
nicht nur einen Teil des geistigen Besitzes, den ein Volk haben kann, sondern
ist die Quintessenz des geistigen Besitzes eines Volkes überhaupt. Die Dichtung
offenbart in ihrer Gesamtheit das Leben des Volkes zu jeder Zeit allseitig,
niemals einseitig, das heißt: sowohl in der Erscheinung der jeweiligen Wirk¬
lichkeit wie auch in dem jeweiligen Verhältnis des Volkes zum Lebensbegriff
überhaupt. Hierdurch wird der Literaturwissenschaft mit einem Schlage die höchste
und hehrste Aufgabe, die ein Volk, ja, die die Welt bisher zu vergeben hat,
übertragen.

Dies Verhältnis zur reinen Literaturwissenschaft als der
Verwaltung des geistigen Volksbesitzes wird gänzlich außer acht
gelassen, wenn jetzt infolge einer durch den Tod Jakob Minors und den
Erich Schmidts in Wien und Berlin ausgebrochenen "Professorenkrisis" von
einer "Krisis der Literaturwissenschaft" gesprochen wird. Faßt man die
Literaturwissenschaft ihrem naturgegebenen Wesen gemäß auf, so hat sie mit




Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung
Aus Anlaß der „Einführung in die Weltliteratur" von Adolf Bartels
Hanns Martin Lister von
I.
Die Dichtung und ihre Verwaltung

iteratur ist Lebensoffenbarung in Sprache und Schrift, in Wort
und Druck, nicht nur in der jüngsten Zeit und Gegenwart,
sondern bereits von jeher.

Diese Definition hat an dem Anfang jeder Beschäftigung
mit der Dichtung eines Volkes und der Welt zu stehen, also auch
vorzüglich die Grundlage ihrer Wissenschaft und ihrer Beurteilung zu bilden.
Nur eine Verkennung dieser Definition konnte eine Veränderung der Gesinnung,
in der alle Literatur zu verwalten ist, hervorrufen und die Literaturwissenschaft
zu einer ausschließlich historischen Disziplin machen, die sie ihrem Stoffe und
Wesen nach gar nicht sein kann, weil das Historische nur einen Teil der Auf¬
gabe zu fassen vermag: die Behandlung der Form ini engeren und weiteren
Sinne durch die philologische Methode. Die Hauptaufgabe aller Literatur¬
wissenschaft ist jedoch nichts weniger als die allseitige Verwaltung dieses
geistigen Besitzes eines Volkes.

Denn das Schrifttum und in ihm als sein Extrakt die Dichtung umfaßt
nicht nur einen Teil des geistigen Besitzes, den ein Volk haben kann, sondern
ist die Quintessenz des geistigen Besitzes eines Volkes überhaupt. Die Dichtung
offenbart in ihrer Gesamtheit das Leben des Volkes zu jeder Zeit allseitig,
niemals einseitig, das heißt: sowohl in der Erscheinung der jeweiligen Wirk¬
lichkeit wie auch in dem jeweiligen Verhältnis des Volkes zum Lebensbegriff
überhaupt. Hierdurch wird der Literaturwissenschaft mit einem Schlage die höchste
und hehrste Aufgabe, die ein Volk, ja, die die Welt bisher zu vergeben hat,
übertragen.

Dies Verhältnis zur reinen Literaturwissenschaft als der
Verwaltung des geistigen Volksbesitzes wird gänzlich außer acht
gelassen, wenn jetzt infolge einer durch den Tod Jakob Minors und den
Erich Schmidts in Wien und Berlin ausgebrochenen „Professorenkrisis" von
einer „Krisis der Literaturwissenschaft" gesprochen wird. Faßt man die
Literaturwissenschaft ihrem naturgegebenen Wesen gemäß auf, so hat sie mit


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[0456] [Abbildung] Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung Aus Anlaß der „Einführung in die Weltliteratur" von Adolf Bartels Hanns Martin Lister von I. Die Dichtung und ihre Verwaltung iteratur ist Lebensoffenbarung in Sprache und Schrift, in Wort und Druck, nicht nur in der jüngsten Zeit und Gegenwart, sondern bereits von jeher. Diese Definition hat an dem Anfang jeder Beschäftigung mit der Dichtung eines Volkes und der Welt zu stehen, also auch vorzüglich die Grundlage ihrer Wissenschaft und ihrer Beurteilung zu bilden. Nur eine Verkennung dieser Definition konnte eine Veränderung der Gesinnung, in der alle Literatur zu verwalten ist, hervorrufen und die Literaturwissenschaft zu einer ausschließlich historischen Disziplin machen, die sie ihrem Stoffe und Wesen nach gar nicht sein kann, weil das Historische nur einen Teil der Auf¬ gabe zu fassen vermag: die Behandlung der Form ini engeren und weiteren Sinne durch die philologische Methode. Die Hauptaufgabe aller Literatur¬ wissenschaft ist jedoch nichts weniger als die allseitige Verwaltung dieses geistigen Besitzes eines Volkes. Denn das Schrifttum und in ihm als sein Extrakt die Dichtung umfaßt nicht nur einen Teil des geistigen Besitzes, den ein Volk haben kann, sondern ist die Quintessenz des geistigen Besitzes eines Volkes überhaupt. Die Dichtung offenbart in ihrer Gesamtheit das Leben des Volkes zu jeder Zeit allseitig, niemals einseitig, das heißt: sowohl in der Erscheinung der jeweiligen Wirk¬ lichkeit wie auch in dem jeweiligen Verhältnis des Volkes zum Lebensbegriff überhaupt. Hierdurch wird der Literaturwissenschaft mit einem Schlage die höchste und hehrste Aufgabe, die ein Volk, ja, die die Welt bisher zu vergeben hat, übertragen. Dies Verhältnis zur reinen Literaturwissenschaft als der Verwaltung des geistigen Volksbesitzes wird gänzlich außer acht gelassen, wenn jetzt infolge einer durch den Tod Jakob Minors und den Erich Schmidts in Wien und Berlin ausgebrochenen „Professorenkrisis" von einer „Krisis der Literaturwissenschaft" gesprochen wird. Faßt man die Literaturwissenschaft ihrem naturgegebenen Wesen gemäß auf, so hat sie mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/456>, abgerufen am 13.11.2024.