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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Litercilurbenrteilung

der Professorenkrisis nichts zu tun, denn diese zeigt nur eine Krisis der Lite¬
raturforschung und der historischen Disziplin an, nicht aber der universalen
Literaturwissenschaft.

Die Literaturwissenschaft als historische Disziplin -- noch Erich Schmidt
hielt daran durchaus fest -- ist vermöge ihrer philologischen Methode erlernbar
und lehrbar. Ebenso die Literaturforschung als solche -- mag sie nun
biographisch, bibliographisch, philosophisch, psychologisch usw. betrieben werden.
Sie hat es lediglich mit dem Stoff zu tun: sie hat diesen Stoff zusammen¬
zutragen und ihn durchzuarbeiten, aber nicht hat sie den Stoff allseitig zu ver¬
werten, lebendig zu machen und zu erhalten. Die historische Disziplin und die
Forschung gehören wegen ihrer Lehr- und Lernbarkeit darum in den Kreis der
Universitäten, die als Unterrichtsanstalten und Forschungsinstitute Stoff zu er¬
graben und zu vermitteln haben.

Anders steht es mit der Literaturwissenschaft als der Verwaltung des
geistigen Besitzes. Sie ist nicht lehrbar und nur wenigen Begnadeten gegeben.
Sie ist formende Kunst, entspringt innerem Beruf und hat zur Voraussetzung
allseitiges Wissen, allseitiges Verstehen der Einzelheiten, während die Forschung
mit zwingender Notwendigkeit zum Zerlegen, zur Spezialisierung, zum Zer¬
splittern drängt.




Alle Literaturwissenschaft beginnt mit dem Urteil über den Wert der
jeweiligen dichterischen Leistung. Dieses Urteil erwächst aus dem Erlebnis, das
eine Persönlichkeit von einer Dichtung empfängt. Der Literaturwissenschaftler
hat also zur Lösung seiner Hauptaufgabe eine Persönlichkeit vorzustellen, die
sähig ist, das Kunstwerk aufs tiefste nachzuerleben und dies Nacherlebnis
fruchtbar zu verwenden, wie Hera. Grimm, Haym, Hehn, Hettner, Bischer,
Dilthey u. a. es vermochten.

Eine Definition des Begriffes "Persönlichkeit" zu geben, ist nicht am
Platze, wo die Anschauung jede abstrakte Analyse überholt. Und die An¬
schauung strahlt aus einem Namen: Goethe. Adolf Barrels, der Weimarer
Literäturprofessor, schließt daran in seiner Einführung in die Welt¬
literatur*) eine durchaus richtige Gedankenreihe (I, S. 1f.): "Es liegt auf
der Hand, daß eine Persönlichkeit von solch typischer Allseitigkeit wie Goethe
für die Nachlebenden eine große "normative" Bedeutung haben muß, und so
hat man denn auch längst das Wort geprägt: die Bildung jedes Deutschen
jüngerer Geschlechter sei an seinem Verhältnis zu Goethe zu messen." Bildung
sei nun. definiert Bartels gut, "Aneignung der dem Wesen entsprechen-



*) Adolf Bartels, Einführung in die Weltliteratur (von den ältesten Zeiten bis zur
Gegenwart) im Anschluß an das Leben und Schaffen Goethes. (Drei Bände, X u. 916,
815 u. 890 Seiten, verlegt bei Georg D. W. Callwey in München 1913, Preis geheftet
21 Mark, gebunden 26 Mark.)
Die Grundzüge einer Litercilurbenrteilung

der Professorenkrisis nichts zu tun, denn diese zeigt nur eine Krisis der Lite¬
raturforschung und der historischen Disziplin an, nicht aber der universalen
Literaturwissenschaft.

Die Literaturwissenschaft als historische Disziplin — noch Erich Schmidt
hielt daran durchaus fest — ist vermöge ihrer philologischen Methode erlernbar
und lehrbar. Ebenso die Literaturforschung als solche — mag sie nun
biographisch, bibliographisch, philosophisch, psychologisch usw. betrieben werden.
Sie hat es lediglich mit dem Stoff zu tun: sie hat diesen Stoff zusammen¬
zutragen und ihn durchzuarbeiten, aber nicht hat sie den Stoff allseitig zu ver¬
werten, lebendig zu machen und zu erhalten. Die historische Disziplin und die
Forschung gehören wegen ihrer Lehr- und Lernbarkeit darum in den Kreis der
Universitäten, die als Unterrichtsanstalten und Forschungsinstitute Stoff zu er¬
graben und zu vermitteln haben.

Anders steht es mit der Literaturwissenschaft als der Verwaltung des
geistigen Besitzes. Sie ist nicht lehrbar und nur wenigen Begnadeten gegeben.
Sie ist formende Kunst, entspringt innerem Beruf und hat zur Voraussetzung
allseitiges Wissen, allseitiges Verstehen der Einzelheiten, während die Forschung
mit zwingender Notwendigkeit zum Zerlegen, zur Spezialisierung, zum Zer¬
splittern drängt.




Alle Literaturwissenschaft beginnt mit dem Urteil über den Wert der
jeweiligen dichterischen Leistung. Dieses Urteil erwächst aus dem Erlebnis, das
eine Persönlichkeit von einer Dichtung empfängt. Der Literaturwissenschaftler
hat also zur Lösung seiner Hauptaufgabe eine Persönlichkeit vorzustellen, die
sähig ist, das Kunstwerk aufs tiefste nachzuerleben und dies Nacherlebnis
fruchtbar zu verwenden, wie Hera. Grimm, Haym, Hehn, Hettner, Bischer,
Dilthey u. a. es vermochten.

Eine Definition des Begriffes „Persönlichkeit" zu geben, ist nicht am
Platze, wo die Anschauung jede abstrakte Analyse überholt. Und die An¬
schauung strahlt aus einem Namen: Goethe. Adolf Barrels, der Weimarer
Literäturprofessor, schließt daran in seiner Einführung in die Welt¬
literatur*) eine durchaus richtige Gedankenreihe (I, S. 1f.): „Es liegt auf
der Hand, daß eine Persönlichkeit von solch typischer Allseitigkeit wie Goethe
für die Nachlebenden eine große „normative" Bedeutung haben muß, und so
hat man denn auch längst das Wort geprägt: die Bildung jedes Deutschen
jüngerer Geschlechter sei an seinem Verhältnis zu Goethe zu messen." Bildung
sei nun. definiert Bartels gut, „Aneignung der dem Wesen entsprechen-



*) Adolf Bartels, Einführung in die Weltliteratur (von den ältesten Zeiten bis zur
Gegenwart) im Anschluß an das Leben und Schaffen Goethes. (Drei Bände, X u. 916,
815 u. 890 Seiten, verlegt bei Georg D. W. Callwey in München 1913, Preis geheftet
21 Mark, gebunden 26 Mark.)
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[0457] Die Grundzüge einer Litercilurbenrteilung der Professorenkrisis nichts zu tun, denn diese zeigt nur eine Krisis der Lite¬ raturforschung und der historischen Disziplin an, nicht aber der universalen Literaturwissenschaft. Die Literaturwissenschaft als historische Disziplin — noch Erich Schmidt hielt daran durchaus fest — ist vermöge ihrer philologischen Methode erlernbar und lehrbar. Ebenso die Literaturforschung als solche — mag sie nun biographisch, bibliographisch, philosophisch, psychologisch usw. betrieben werden. Sie hat es lediglich mit dem Stoff zu tun: sie hat diesen Stoff zusammen¬ zutragen und ihn durchzuarbeiten, aber nicht hat sie den Stoff allseitig zu ver¬ werten, lebendig zu machen und zu erhalten. Die historische Disziplin und die Forschung gehören wegen ihrer Lehr- und Lernbarkeit darum in den Kreis der Universitäten, die als Unterrichtsanstalten und Forschungsinstitute Stoff zu er¬ graben und zu vermitteln haben. Anders steht es mit der Literaturwissenschaft als der Verwaltung des geistigen Besitzes. Sie ist nicht lehrbar und nur wenigen Begnadeten gegeben. Sie ist formende Kunst, entspringt innerem Beruf und hat zur Voraussetzung allseitiges Wissen, allseitiges Verstehen der Einzelheiten, während die Forschung mit zwingender Notwendigkeit zum Zerlegen, zur Spezialisierung, zum Zer¬ splittern drängt. Alle Literaturwissenschaft beginnt mit dem Urteil über den Wert der jeweiligen dichterischen Leistung. Dieses Urteil erwächst aus dem Erlebnis, das eine Persönlichkeit von einer Dichtung empfängt. Der Literaturwissenschaftler hat also zur Lösung seiner Hauptaufgabe eine Persönlichkeit vorzustellen, die sähig ist, das Kunstwerk aufs tiefste nachzuerleben und dies Nacherlebnis fruchtbar zu verwenden, wie Hera. Grimm, Haym, Hehn, Hettner, Bischer, Dilthey u. a. es vermochten. Eine Definition des Begriffes „Persönlichkeit" zu geben, ist nicht am Platze, wo die Anschauung jede abstrakte Analyse überholt. Und die An¬ schauung strahlt aus einem Namen: Goethe. Adolf Barrels, der Weimarer Literäturprofessor, schließt daran in seiner Einführung in die Welt¬ literatur*) eine durchaus richtige Gedankenreihe (I, S. 1f.): „Es liegt auf der Hand, daß eine Persönlichkeit von solch typischer Allseitigkeit wie Goethe für die Nachlebenden eine große „normative" Bedeutung haben muß, und so hat man denn auch längst das Wort geprägt: die Bildung jedes Deutschen jüngerer Geschlechter sei an seinem Verhältnis zu Goethe zu messen." Bildung sei nun. definiert Bartels gut, „Aneignung der dem Wesen entsprechen- *) Adolf Bartels, Einführung in die Weltliteratur (von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart) im Anschluß an das Leben und Schaffen Goethes. (Drei Bände, X u. 916, 815 u. 890 Seiten, verlegt bei Georg D. W. Callwey in München 1913, Preis geheftet 21 Mark, gebunden 26 Mark.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/457>, abgerufen am 24.07.2024.