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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das Kaiserhoch und die Sozialdemokratie

politischer Perversität. Nichts weiter als deren notwendiger Ausdruck ist eine
Gesamtpolitik, wie die unserige, die in den gebrauchten Worten halbrückschrittlich,
in den erlassenen Gesetzen mehr als fortschrittlich, in der Form da und dort
an das Mittelalter, in der Sache an den sozialistischen Staat gemahnt, während
in den Ländern alter politischer Klugheit umgekehrt, unter dem Schutze der großen
freiheitlichen Worte, vorsichtig und langsam, wie es sein muß, regiert wird.

Ach, wenn man doch den ungeborenen Deutschen der Zukunft, die das alles
zu entgelten haben, heute das Wahlrecht verleihen könnte. Aber die armen,
sie wissen ja noch nicht, wie zugunsten einer mittleren Zufriedenheit derjenigen
unter den gegenwärtigen Deutschen, die wählen können, über ihr Schicksal ver¬
fügt wird.

So, jetzt ist es genug. Verzeih, wenn ich in einem, jetzt freilich der Ver¬
gangenheit angehörenden, sehr liberalen Idealismus Eure Steuer- und Sozial¬
politik heftiger angegriffen habe, als Dein konservativ-gouvernementales Gemüt
vertragen kann. Adio! Grüße das Land der Obotriten!


Dein Jakob.


Das Aaiserhoch und die Hozialdemokratie
Michel von

le unwürdige Szene beim Schlüsse des Reichstages wird wohl
noch ihre Konsequenzen haben. Eine strafrechtliche Verfolgung
der sozialdemokratischen Verweigerer des Kaiserhochs kommt nach
den Erklärungen des preußischen Justizministers nicht in Betracht.
Um so dringender wird die Parteien des Reichstages die Frage
beschäftigen müssen, wie sie die Würde des Kaisers und des Reichstages selber
gegen eine Wiederholung so peinlicher Verletzungen schützen wollen. Nach der
Erklärung des Freiherrn von Richthofen im Herrenhause werden die Konservativen
vermutlich die Angelegenheit weiter verfolgen. Aus anderen Parteilagern liegen
Äußerungen hierzu noch nicht vor. Daß die Reichsregierung die Sache auf¬
merksam im Auge behält, ergibt sich aus mehreren Äußerungen der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung. Dem Reichstage wird es keinesfalls erspart bleiben, sich
erneut sozialdemokratischen Kundgebungen antimonarchischer Gesinnung im
Sitzungssaale gegenüberzusehen. Es liegt nämlich nicht eine gelegentliche


Das Kaiserhoch und die Sozialdemokratie

politischer Perversität. Nichts weiter als deren notwendiger Ausdruck ist eine
Gesamtpolitik, wie die unserige, die in den gebrauchten Worten halbrückschrittlich,
in den erlassenen Gesetzen mehr als fortschrittlich, in der Form da und dort
an das Mittelalter, in der Sache an den sozialistischen Staat gemahnt, während
in den Ländern alter politischer Klugheit umgekehrt, unter dem Schutze der großen
freiheitlichen Worte, vorsichtig und langsam, wie es sein muß, regiert wird.

Ach, wenn man doch den ungeborenen Deutschen der Zukunft, die das alles
zu entgelten haben, heute das Wahlrecht verleihen könnte. Aber die armen,
sie wissen ja noch nicht, wie zugunsten einer mittleren Zufriedenheit derjenigen
unter den gegenwärtigen Deutschen, die wählen können, über ihr Schicksal ver¬
fügt wird.

So, jetzt ist es genug. Verzeih, wenn ich in einem, jetzt freilich der Ver¬
gangenheit angehörenden, sehr liberalen Idealismus Eure Steuer- und Sozial¬
politik heftiger angegriffen habe, als Dein konservativ-gouvernementales Gemüt
vertragen kann. Adio! Grüße das Land der Obotriten!


Dein Jakob.


Das Aaiserhoch und die Hozialdemokratie
Michel von

le unwürdige Szene beim Schlüsse des Reichstages wird wohl
noch ihre Konsequenzen haben. Eine strafrechtliche Verfolgung
der sozialdemokratischen Verweigerer des Kaiserhochs kommt nach
den Erklärungen des preußischen Justizministers nicht in Betracht.
Um so dringender wird die Parteien des Reichstages die Frage
beschäftigen müssen, wie sie die Würde des Kaisers und des Reichstages selber
gegen eine Wiederholung so peinlicher Verletzungen schützen wollen. Nach der
Erklärung des Freiherrn von Richthofen im Herrenhause werden die Konservativen
vermutlich die Angelegenheit weiter verfolgen. Aus anderen Parteilagern liegen
Äußerungen hierzu noch nicht vor. Daß die Reichsregierung die Sache auf¬
merksam im Auge behält, ergibt sich aus mehreren Äußerungen der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung. Dem Reichstage wird es keinesfalls erspart bleiben, sich
erneut sozialdemokratischen Kundgebungen antimonarchischer Gesinnung im
Sitzungssaale gegenüberzusehen. Es liegt nämlich nicht eine gelegentliche


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[0450] Das Kaiserhoch und die Sozialdemokratie politischer Perversität. Nichts weiter als deren notwendiger Ausdruck ist eine Gesamtpolitik, wie die unserige, die in den gebrauchten Worten halbrückschrittlich, in den erlassenen Gesetzen mehr als fortschrittlich, in der Form da und dort an das Mittelalter, in der Sache an den sozialistischen Staat gemahnt, während in den Ländern alter politischer Klugheit umgekehrt, unter dem Schutze der großen freiheitlichen Worte, vorsichtig und langsam, wie es sein muß, regiert wird. Ach, wenn man doch den ungeborenen Deutschen der Zukunft, die das alles zu entgelten haben, heute das Wahlrecht verleihen könnte. Aber die armen, sie wissen ja noch nicht, wie zugunsten einer mittleren Zufriedenheit derjenigen unter den gegenwärtigen Deutschen, die wählen können, über ihr Schicksal ver¬ fügt wird. So, jetzt ist es genug. Verzeih, wenn ich in einem, jetzt freilich der Ver¬ gangenheit angehörenden, sehr liberalen Idealismus Eure Steuer- und Sozial¬ politik heftiger angegriffen habe, als Dein konservativ-gouvernementales Gemüt vertragen kann. Adio! Grüße das Land der Obotriten! Dein Jakob. Das Aaiserhoch und die Hozialdemokratie Michel von le unwürdige Szene beim Schlüsse des Reichstages wird wohl noch ihre Konsequenzen haben. Eine strafrechtliche Verfolgung der sozialdemokratischen Verweigerer des Kaiserhochs kommt nach den Erklärungen des preußischen Justizministers nicht in Betracht. Um so dringender wird die Parteien des Reichstages die Frage beschäftigen müssen, wie sie die Würde des Kaisers und des Reichstages selber gegen eine Wiederholung so peinlicher Verletzungen schützen wollen. Nach der Erklärung des Freiherrn von Richthofen im Herrenhause werden die Konservativen vermutlich die Angelegenheit weiter verfolgen. Aus anderen Parteilagern liegen Äußerungen hierzu noch nicht vor. Daß die Reichsregierung die Sache auf¬ merksam im Auge behält, ergibt sich aus mehreren Äußerungen der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung. Dem Reichstage wird es keinesfalls erspart bleiben, sich erneut sozialdemokratischen Kundgebungen antimonarchischer Gesinnung im Sitzungssaale gegenüberzusehen. Es liegt nämlich nicht eine gelegentliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/450>, abgerufen am 13.11.2024.