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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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"Freideutsche Ingcndkultur"

sätzlich verneint und schlechthin verurteilt. Zuvor aber müßte man bereits
erkannt haben, daß das Verhältnis der "Selbsterziehung", in deren Idee das
gemeinsame Streben der freideutschen Jugend wurzelt und gipfelt, zu der
"Erziehung durch andere" unter keinen Umständen schroff gegensätzlich, aus¬
schließend und unausgleichbar gefaßt zu werden braucht oder gefaßt werden
darf, etwa in der Art, daß die Arbeit der Schule durch die Selbsterziehung
ersetzt, nicht bloß ergänzt werden müßte. Gewiß soll auch die erziehliche Hilfe
der Schule letzthin nur Hilfe zur Selbsterziehung sein und die Idee der Freiheit
nicht aus den Augen verlieren -- gehen kann man einen nicht machen, er muß
es selbst vollbringen --, aber dieser Hilfe der Schule, wie des Hauses und des
Staates, bedarf die werdende Jugend genau so lange, als sie noch im Werden
begriffen und zwecks Abschlusses der Schulbildung oder Gründung einer eigenen
Existenz der Verantwortlichkeit jener Lebenskreise anvertraut oder von ihnen
abhängig ist. Darum ist auch jenes Programm der Einigungsformel vom
Hohen Meißner "aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung," so
auserlesen es sein mag, wenn man es recht versteht, auf die Stufe der Schul¬
jugend angewandt, praktisch gar nicht durchführbar.

Zum Abschluß dieser Gedanken ein Wort, das Geheimrat Dr. Cauer in
Münster auf der Breslauer Tagung den: Wynekenschen Kreise in das Stamm¬
buch schrieb: "Es gehört zum Wesen der Schule, daß in ihr gelernt wird.
Die Wirkung zum Sittlichen, die Ausbildung der Persönlichkeit gedeihen da
am besten, wo sie unbewußt gefördert werden. Nur nicht mit bewußter Ab¬
sicht eine bestimmte Gesinnung züchten wollen: eben das warf man in Zeiten
der Reaktion der Regierung und der von ihr beherrschten Schule vor. Wer
sich der Schule bemächtigt, um die Menschen, sie mögen wollen oder nicht, zur
Freiheit zu erziehen, würde eine neue, drückendere Tyrannei aufrichten. Denn
es gibt keine schlimmere Gewaltherrschaft, als die im Namen der Freiheit geübt
wird, keinen schlimmeren Fanatismus als den der befreienden Idee."

Die Jugend "leidet" aber auch deshalb unter der Schule, weil das be¬
stehende Erziehungssystem ihr die Auswirkung und Gestaltung ihres


"Triebschatzes"

versagt, und doch ist das Ringen darum "der Sinn und Inhalt ihres Lebens".
"Die Jugend fordert eine positive Kultur ihres erotischen Erlebens; sie fordert
z. B. deshalb die Koedukation, um in dem Gemeinschaftsleben der Geschlechter ein
neues Geschlechtsideal der Kameradschaftlichkeit sich schaffen zu können . . ., sie
kämpft um eine Geschlechtsliebe, die in der Tiefe eines gemeinsamen geistigen Erleb¬
nisses wurzelt." "Jugendkultur ist die bewußte Gestaltung der Triebe und Instinkte
der Jugend, eben des spezifisch Jugendlichen in der Jugend." So ließ sich in
Breslau als erster Diskussionsredner der Jungen der 8tuet. plin. Hans Reichenbach
aus München vernehmen, und er schlug damit Töne an, deren Klang auch dem
"Anfang" nicht fremd ist, sondern mit zu seiner Wesenscharakteristik gehört.


„Freideutsche Ingcndkultur"

sätzlich verneint und schlechthin verurteilt. Zuvor aber müßte man bereits
erkannt haben, daß das Verhältnis der „Selbsterziehung", in deren Idee das
gemeinsame Streben der freideutschen Jugend wurzelt und gipfelt, zu der
„Erziehung durch andere" unter keinen Umständen schroff gegensätzlich, aus¬
schließend und unausgleichbar gefaßt zu werden braucht oder gefaßt werden
darf, etwa in der Art, daß die Arbeit der Schule durch die Selbsterziehung
ersetzt, nicht bloß ergänzt werden müßte. Gewiß soll auch die erziehliche Hilfe
der Schule letzthin nur Hilfe zur Selbsterziehung sein und die Idee der Freiheit
nicht aus den Augen verlieren — gehen kann man einen nicht machen, er muß
es selbst vollbringen —, aber dieser Hilfe der Schule, wie des Hauses und des
Staates, bedarf die werdende Jugend genau so lange, als sie noch im Werden
begriffen und zwecks Abschlusses der Schulbildung oder Gründung einer eigenen
Existenz der Verantwortlichkeit jener Lebenskreise anvertraut oder von ihnen
abhängig ist. Darum ist auch jenes Programm der Einigungsformel vom
Hohen Meißner „aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung," so
auserlesen es sein mag, wenn man es recht versteht, auf die Stufe der Schul¬
jugend angewandt, praktisch gar nicht durchführbar.

Zum Abschluß dieser Gedanken ein Wort, das Geheimrat Dr. Cauer in
Münster auf der Breslauer Tagung den: Wynekenschen Kreise in das Stamm¬
buch schrieb: „Es gehört zum Wesen der Schule, daß in ihr gelernt wird.
Die Wirkung zum Sittlichen, die Ausbildung der Persönlichkeit gedeihen da
am besten, wo sie unbewußt gefördert werden. Nur nicht mit bewußter Ab¬
sicht eine bestimmte Gesinnung züchten wollen: eben das warf man in Zeiten
der Reaktion der Regierung und der von ihr beherrschten Schule vor. Wer
sich der Schule bemächtigt, um die Menschen, sie mögen wollen oder nicht, zur
Freiheit zu erziehen, würde eine neue, drückendere Tyrannei aufrichten. Denn
es gibt keine schlimmere Gewaltherrschaft, als die im Namen der Freiheit geübt
wird, keinen schlimmeren Fanatismus als den der befreienden Idee."

Die Jugend „leidet" aber auch deshalb unter der Schule, weil das be¬
stehende Erziehungssystem ihr die Auswirkung und Gestaltung ihres


„Triebschatzes"

versagt, und doch ist das Ringen darum „der Sinn und Inhalt ihres Lebens".
„Die Jugend fordert eine positive Kultur ihres erotischen Erlebens; sie fordert
z. B. deshalb die Koedukation, um in dem Gemeinschaftsleben der Geschlechter ein
neues Geschlechtsideal der Kameradschaftlichkeit sich schaffen zu können . . ., sie
kämpft um eine Geschlechtsliebe, die in der Tiefe eines gemeinsamen geistigen Erleb¬
nisses wurzelt." „Jugendkultur ist die bewußte Gestaltung der Triebe und Instinkte
der Jugend, eben des spezifisch Jugendlichen in der Jugend." So ließ sich in
Breslau als erster Diskussionsredner der Jungen der 8tuet. plin. Hans Reichenbach
aus München vernehmen, und er schlug damit Töne an, deren Klang auch dem
„Anfang" nicht fremd ist, sondern mit zu seiner Wesenscharakteristik gehört.


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[0415] „Freideutsche Ingcndkultur" sätzlich verneint und schlechthin verurteilt. Zuvor aber müßte man bereits erkannt haben, daß das Verhältnis der „Selbsterziehung", in deren Idee das gemeinsame Streben der freideutschen Jugend wurzelt und gipfelt, zu der „Erziehung durch andere" unter keinen Umständen schroff gegensätzlich, aus¬ schließend und unausgleichbar gefaßt zu werden braucht oder gefaßt werden darf, etwa in der Art, daß die Arbeit der Schule durch die Selbsterziehung ersetzt, nicht bloß ergänzt werden müßte. Gewiß soll auch die erziehliche Hilfe der Schule letzthin nur Hilfe zur Selbsterziehung sein und die Idee der Freiheit nicht aus den Augen verlieren — gehen kann man einen nicht machen, er muß es selbst vollbringen —, aber dieser Hilfe der Schule, wie des Hauses und des Staates, bedarf die werdende Jugend genau so lange, als sie noch im Werden begriffen und zwecks Abschlusses der Schulbildung oder Gründung einer eigenen Existenz der Verantwortlichkeit jener Lebenskreise anvertraut oder von ihnen abhängig ist. Darum ist auch jenes Programm der Einigungsformel vom Hohen Meißner „aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung," so auserlesen es sein mag, wenn man es recht versteht, auf die Stufe der Schul¬ jugend angewandt, praktisch gar nicht durchführbar. Zum Abschluß dieser Gedanken ein Wort, das Geheimrat Dr. Cauer in Münster auf der Breslauer Tagung den: Wynekenschen Kreise in das Stamm¬ buch schrieb: „Es gehört zum Wesen der Schule, daß in ihr gelernt wird. Die Wirkung zum Sittlichen, die Ausbildung der Persönlichkeit gedeihen da am besten, wo sie unbewußt gefördert werden. Nur nicht mit bewußter Ab¬ sicht eine bestimmte Gesinnung züchten wollen: eben das warf man in Zeiten der Reaktion der Regierung und der von ihr beherrschten Schule vor. Wer sich der Schule bemächtigt, um die Menschen, sie mögen wollen oder nicht, zur Freiheit zu erziehen, würde eine neue, drückendere Tyrannei aufrichten. Denn es gibt keine schlimmere Gewaltherrschaft, als die im Namen der Freiheit geübt wird, keinen schlimmeren Fanatismus als den der befreienden Idee." Die Jugend „leidet" aber auch deshalb unter der Schule, weil das be¬ stehende Erziehungssystem ihr die Auswirkung und Gestaltung ihres „Triebschatzes" versagt, und doch ist das Ringen darum „der Sinn und Inhalt ihres Lebens". „Die Jugend fordert eine positive Kultur ihres erotischen Erlebens; sie fordert z. B. deshalb die Koedukation, um in dem Gemeinschaftsleben der Geschlechter ein neues Geschlechtsideal der Kameradschaftlichkeit sich schaffen zu können . . ., sie kämpft um eine Geschlechtsliebe, die in der Tiefe eines gemeinsamen geistigen Erleb¬ nisses wurzelt." „Jugendkultur ist die bewußte Gestaltung der Triebe und Instinkte der Jugend, eben des spezifisch Jugendlichen in der Jugend." So ließ sich in Breslau als erster Diskussionsredner der Jungen der 8tuet. plin. Hans Reichenbach aus München vernehmen, und er schlug damit Töne an, deren Klang auch dem „Anfang" nicht fremd ist, sondern mit zu seiner Wesenscharakteristik gehört.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/415>, abgerufen am 24.07.2024.