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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundlagen des Expressionismus
Dr. w. Warstat von

?M!cum man heute vom "Expressionismus" spricht, so meint man in
den meisten Fällen den malerischen Expressionismus. Auf dem
Gebiete der Malerei nämlich hat sich die Abwendung vom
Naturalismus zu diesem neuen Kunststil und dieser neuen Kunst¬
auffassung am energischsten und -- mit dem meisten Geräusche
vollzogen. Gerade weil aber für den malerischen Expressionismus so laut die
Trommel gerührt wird, ist man in den Kreisen, die ernsthafter Kunstübung und
ernsthafter Kunstbetrachtung sich hingeben, geneigt, den Expressionismus -- und
nicht bloß den malerischen allein -- als eine Einzelerscheinung, als eine
Augenblicksverirrung aufzufassen, die entsprungen ist aus dem Bedürfnis einiger
junger Künstler nach dem Neuen um jeden Preis.

In dieser Auffassung liegt vielleicht ein Körnchen Wahrheit; dennoch ist
sie nicht im vollen Umfange zutreffend und führt zu einer Unterschätzung des
Expressionismus. Mag der malerische Expressionismus noch so einseitig sein,
mag er noch so sehr des beherrschten künstlerischen Stiles, der Form und
dadurch des Kunstcharakters überhaupt entbehren, für den Ästhetiker, für den
Kunst- und Kulturpsychologen hat er doch ein ausnehmendes Interesse als ein
Symptom. Wenn man ihn mit ähnlichen und gleichlaufenden Entwicklungen
vergleicht, so wird deutlich, daß der Expressionismus mehr ist als eine bloße
Richtung in der Malerei, daß er hindeutet auf eine gänzliche Umkehr nicht nur
in unserer Kunstauffassung, sondern auch in unserer Lebensauffassung. Genau
so wie man unter dem Namen "Naturalismus", wenn man will, nicht bloß
einen Kunststil und eine Kunstauffassung, sondern eine gesamte Lebensauffassung,
eine Weltanschauung verstehen kann, so verbirgt sich auch hinter dem Expressto¬
nismus der Anfang wenigstens einer neuen Kunst- und Lebensauffassung.

Daß zwischen dem Naturalismus und der naturwissenschaftlich-materia¬
listischen Weltanschauung bestimmte Zusammenhänge bestehen, darauf ist schon




Die Grundlagen des Expressionismus
Dr. w. Warstat von

?M!cum man heute vom „Expressionismus" spricht, so meint man in
den meisten Fällen den malerischen Expressionismus. Auf dem
Gebiete der Malerei nämlich hat sich die Abwendung vom
Naturalismus zu diesem neuen Kunststil und dieser neuen Kunst¬
auffassung am energischsten und — mit dem meisten Geräusche
vollzogen. Gerade weil aber für den malerischen Expressionismus so laut die
Trommel gerührt wird, ist man in den Kreisen, die ernsthafter Kunstübung und
ernsthafter Kunstbetrachtung sich hingeben, geneigt, den Expressionismus — und
nicht bloß den malerischen allein — als eine Einzelerscheinung, als eine
Augenblicksverirrung aufzufassen, die entsprungen ist aus dem Bedürfnis einiger
junger Künstler nach dem Neuen um jeden Preis.

In dieser Auffassung liegt vielleicht ein Körnchen Wahrheit; dennoch ist
sie nicht im vollen Umfange zutreffend und führt zu einer Unterschätzung des
Expressionismus. Mag der malerische Expressionismus noch so einseitig sein,
mag er noch so sehr des beherrschten künstlerischen Stiles, der Form und
dadurch des Kunstcharakters überhaupt entbehren, für den Ästhetiker, für den
Kunst- und Kulturpsychologen hat er doch ein ausnehmendes Interesse als ein
Symptom. Wenn man ihn mit ähnlichen und gleichlaufenden Entwicklungen
vergleicht, so wird deutlich, daß der Expressionismus mehr ist als eine bloße
Richtung in der Malerei, daß er hindeutet auf eine gänzliche Umkehr nicht nur
in unserer Kunstauffassung, sondern auch in unserer Lebensauffassung. Genau
so wie man unter dem Namen „Naturalismus", wenn man will, nicht bloß
einen Kunststil und eine Kunstauffassung, sondern eine gesamte Lebensauffassung,
eine Weltanschauung verstehen kann, so verbirgt sich auch hinter dem Expressto¬
nismus der Anfang wenigstens einer neuen Kunst- und Lebensauffassung.

Daß zwischen dem Naturalismus und der naturwissenschaftlich-materia¬
listischen Weltanschauung bestimmte Zusammenhänge bestehen, darauf ist schon


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[0324] [Abbildung] Die Grundlagen des Expressionismus Dr. w. Warstat von ?M!cum man heute vom „Expressionismus" spricht, so meint man in den meisten Fällen den malerischen Expressionismus. Auf dem Gebiete der Malerei nämlich hat sich die Abwendung vom Naturalismus zu diesem neuen Kunststil und dieser neuen Kunst¬ auffassung am energischsten und — mit dem meisten Geräusche vollzogen. Gerade weil aber für den malerischen Expressionismus so laut die Trommel gerührt wird, ist man in den Kreisen, die ernsthafter Kunstübung und ernsthafter Kunstbetrachtung sich hingeben, geneigt, den Expressionismus — und nicht bloß den malerischen allein — als eine Einzelerscheinung, als eine Augenblicksverirrung aufzufassen, die entsprungen ist aus dem Bedürfnis einiger junger Künstler nach dem Neuen um jeden Preis. In dieser Auffassung liegt vielleicht ein Körnchen Wahrheit; dennoch ist sie nicht im vollen Umfange zutreffend und führt zu einer Unterschätzung des Expressionismus. Mag der malerische Expressionismus noch so einseitig sein, mag er noch so sehr des beherrschten künstlerischen Stiles, der Form und dadurch des Kunstcharakters überhaupt entbehren, für den Ästhetiker, für den Kunst- und Kulturpsychologen hat er doch ein ausnehmendes Interesse als ein Symptom. Wenn man ihn mit ähnlichen und gleichlaufenden Entwicklungen vergleicht, so wird deutlich, daß der Expressionismus mehr ist als eine bloße Richtung in der Malerei, daß er hindeutet auf eine gänzliche Umkehr nicht nur in unserer Kunstauffassung, sondern auch in unserer Lebensauffassung. Genau so wie man unter dem Namen „Naturalismus", wenn man will, nicht bloß einen Kunststil und eine Kunstauffassung, sondern eine gesamte Lebensauffassung, eine Weltanschauung verstehen kann, so verbirgt sich auch hinter dem Expressto¬ nismus der Anfang wenigstens einer neuen Kunst- und Lebensauffassung. Daß zwischen dem Naturalismus und der naturwissenschaftlich-materia¬ listischen Weltanschauung bestimmte Zusammenhänge bestehen, darauf ist schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/324>, abgerufen am 13.11.2024.