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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundlagen des Expressionismus

oft hingewiesen worden*). Die naturwissenschaftliche Weltanschauung lenkte die
Aufmerksamkeit auf die objektiv-realen, die gegenständlichen Faktoren des
menschlichen Erlebens als die in erster Reihe, wenn nicht einzig wichtigen und
wertvollen. Der Naturalismus, als der Kunststil des naturwissenschaftlichen
Zeitalters, bemühte sich um die Darstellung eines solchen Gegenständlichen,
Realen, allerdings stets unter einem ganz besonderen künstlerisch-persönlichen
Gesichtspunkt. Diese Tatsache formulierte Zola in seiner berühmten Formel:
"I^ne (Luvre ä'art L8t un Loin ac ig, nature vu 5 travsr8 un tom-
peramsnt," und dem deutschen Naturalismus, in Sonderheit seinem Vorkämpfer
Arno Holz, blieb es vorbehalten, diese mit künstlerischem Feingefühl erfaßte Formel
zu vergröbern zu dem Satz: "Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur
zu sein," während sie allerdings niemals in Wirklichkeit Natur sein kann. Das
Kunstwerk erscheint in dieser naturalistischen Ästhetik eben als "Natur--x", wobei
x ein veränderliches ist**).

Auch die gesamte Ästhetik des naturwissenschaftlichen Zeitalters, die psycho¬
logische Ästhetik, steht unter der Herrschaft der naturalistischen Kunstauffassung.
Sie arbeitet sich zu der Erkenntnis hindurch, daß das Kunstwerk zwar keine
adäquate Wiedergabe der Natur sei, daß es aber eine möglichst klare und
deutliche, mit einem Blick erfaßbare Wiedergabe der Erscheinung eines Gegen¬
standes erstrebe, des Eindruckes, den der Künstler auf Grund allgemein psycho¬
logischer Gesetze einerseits und anderseits auf Grund seiner individuellen Anlage
und Begabung von der Natur erhält. Ihre Hauptaufgabe erblickte die psycho¬
logische Ästhetik demgemäß in der Analyse dieses ersten künstlerischen Eindruckes,
der Konzeption, ferner in der Analyse des künstlerischen Schaffens im engeren
Sinne und endlich in der Analyse der Kunstwirkung auf den ästhetisch
genießenden Menschen. Sie blieb dabei in diesen formalen Aufgaben stecken
und machte nur vergebliche Versuche, von der Form zum Gehalt des Kunst-
Werkes zu gelangen. Auch mit Hilfe der Begriffe "Assoziation" und "Ein¬
fühlung" ist es ihr nicht gelungen, eine völlig befriedigende Brücke zwischen
Inhalt und Form in der Kunst herzustellen. --

Es ist nun bemerkenswert, daß das Aufkommen des Expressionismus als
Kunstrichtung sich gleichzeitig mit einer Abwendung unseres geistigen Lebens,
unserer Kultur, von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung vollzieht, genau
so wie sich das Aufblühen des Naturalismus an die siegreiche Entwicklung
des naturwissenschaftlichen Materialismus angeschlossen hatte. Ich habe vor
kurzem in den "Grenzboten" das "romantische Bedürfnis unserer Zeit"**') zu
schildern versucht, das Bedürfnis nach dem Erleben starker Gefühlswerte und
der Betätigung der Gefühlsseite der menschlichen Veranlagung. Der Expressio¬
nismus erscheint unter diesem Gesichtswinkel betrachtet als die Ausstrahlung





*) Z. B. O, Hansson: "Der Materialismus in der Literatur." Stuttgart 1892.
"*"
) Vgl. Arno Holz: "Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze.
1914, Heft 5.
Die Grundlagen des Expressionismus

oft hingewiesen worden*). Die naturwissenschaftliche Weltanschauung lenkte die
Aufmerksamkeit auf die objektiv-realen, die gegenständlichen Faktoren des
menschlichen Erlebens als die in erster Reihe, wenn nicht einzig wichtigen und
wertvollen. Der Naturalismus, als der Kunststil des naturwissenschaftlichen
Zeitalters, bemühte sich um die Darstellung eines solchen Gegenständlichen,
Realen, allerdings stets unter einem ganz besonderen künstlerisch-persönlichen
Gesichtspunkt. Diese Tatsache formulierte Zola in seiner berühmten Formel:
„I^ne (Luvre ä'art L8t un Loin ac ig, nature vu 5 travsr8 un tom-
peramsnt," und dem deutschen Naturalismus, in Sonderheit seinem Vorkämpfer
Arno Holz, blieb es vorbehalten, diese mit künstlerischem Feingefühl erfaßte Formel
zu vergröbern zu dem Satz: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur
zu sein," während sie allerdings niemals in Wirklichkeit Natur sein kann. Das
Kunstwerk erscheint in dieser naturalistischen Ästhetik eben als „Natur—x", wobei
x ein veränderliches ist**).

Auch die gesamte Ästhetik des naturwissenschaftlichen Zeitalters, die psycho¬
logische Ästhetik, steht unter der Herrschaft der naturalistischen Kunstauffassung.
Sie arbeitet sich zu der Erkenntnis hindurch, daß das Kunstwerk zwar keine
adäquate Wiedergabe der Natur sei, daß es aber eine möglichst klare und
deutliche, mit einem Blick erfaßbare Wiedergabe der Erscheinung eines Gegen¬
standes erstrebe, des Eindruckes, den der Künstler auf Grund allgemein psycho¬
logischer Gesetze einerseits und anderseits auf Grund seiner individuellen Anlage
und Begabung von der Natur erhält. Ihre Hauptaufgabe erblickte die psycho¬
logische Ästhetik demgemäß in der Analyse dieses ersten künstlerischen Eindruckes,
der Konzeption, ferner in der Analyse des künstlerischen Schaffens im engeren
Sinne und endlich in der Analyse der Kunstwirkung auf den ästhetisch
genießenden Menschen. Sie blieb dabei in diesen formalen Aufgaben stecken
und machte nur vergebliche Versuche, von der Form zum Gehalt des Kunst-
Werkes zu gelangen. Auch mit Hilfe der Begriffe „Assoziation" und „Ein¬
fühlung" ist es ihr nicht gelungen, eine völlig befriedigende Brücke zwischen
Inhalt und Form in der Kunst herzustellen. —

Es ist nun bemerkenswert, daß das Aufkommen des Expressionismus als
Kunstrichtung sich gleichzeitig mit einer Abwendung unseres geistigen Lebens,
unserer Kultur, von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung vollzieht, genau
so wie sich das Aufblühen des Naturalismus an die siegreiche Entwicklung
des naturwissenschaftlichen Materialismus angeschlossen hatte. Ich habe vor
kurzem in den „Grenzboten" das „romantische Bedürfnis unserer Zeit"**') zu
schildern versucht, das Bedürfnis nach dem Erleben starker Gefühlswerte und
der Betätigung der Gefühlsseite der menschlichen Veranlagung. Der Expressio¬
nismus erscheint unter diesem Gesichtswinkel betrachtet als die Ausstrahlung





*) Z. B. O, Hansson: „Der Materialismus in der Literatur." Stuttgart 1892.
"*"
) Vgl. Arno Holz: „Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze.
1914, Heft 5.
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[0325] Die Grundlagen des Expressionismus oft hingewiesen worden*). Die naturwissenschaftliche Weltanschauung lenkte die Aufmerksamkeit auf die objektiv-realen, die gegenständlichen Faktoren des menschlichen Erlebens als die in erster Reihe, wenn nicht einzig wichtigen und wertvollen. Der Naturalismus, als der Kunststil des naturwissenschaftlichen Zeitalters, bemühte sich um die Darstellung eines solchen Gegenständlichen, Realen, allerdings stets unter einem ganz besonderen künstlerisch-persönlichen Gesichtspunkt. Diese Tatsache formulierte Zola in seiner berühmten Formel: „I^ne (Luvre ä'art L8t un Loin ac ig, nature vu 5 travsr8 un tom- peramsnt," und dem deutschen Naturalismus, in Sonderheit seinem Vorkämpfer Arno Holz, blieb es vorbehalten, diese mit künstlerischem Feingefühl erfaßte Formel zu vergröbern zu dem Satz: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein," während sie allerdings niemals in Wirklichkeit Natur sein kann. Das Kunstwerk erscheint in dieser naturalistischen Ästhetik eben als „Natur—x", wobei x ein veränderliches ist**). Auch die gesamte Ästhetik des naturwissenschaftlichen Zeitalters, die psycho¬ logische Ästhetik, steht unter der Herrschaft der naturalistischen Kunstauffassung. Sie arbeitet sich zu der Erkenntnis hindurch, daß das Kunstwerk zwar keine adäquate Wiedergabe der Natur sei, daß es aber eine möglichst klare und deutliche, mit einem Blick erfaßbare Wiedergabe der Erscheinung eines Gegen¬ standes erstrebe, des Eindruckes, den der Künstler auf Grund allgemein psycho¬ logischer Gesetze einerseits und anderseits auf Grund seiner individuellen Anlage und Begabung von der Natur erhält. Ihre Hauptaufgabe erblickte die psycho¬ logische Ästhetik demgemäß in der Analyse dieses ersten künstlerischen Eindruckes, der Konzeption, ferner in der Analyse des künstlerischen Schaffens im engeren Sinne und endlich in der Analyse der Kunstwirkung auf den ästhetisch genießenden Menschen. Sie blieb dabei in diesen formalen Aufgaben stecken und machte nur vergebliche Versuche, von der Form zum Gehalt des Kunst- Werkes zu gelangen. Auch mit Hilfe der Begriffe „Assoziation" und „Ein¬ fühlung" ist es ihr nicht gelungen, eine völlig befriedigende Brücke zwischen Inhalt und Form in der Kunst herzustellen. — Es ist nun bemerkenswert, daß das Aufkommen des Expressionismus als Kunstrichtung sich gleichzeitig mit einer Abwendung unseres geistigen Lebens, unserer Kultur, von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung vollzieht, genau so wie sich das Aufblühen des Naturalismus an die siegreiche Entwicklung des naturwissenschaftlichen Materialismus angeschlossen hatte. Ich habe vor kurzem in den „Grenzboten" das „romantische Bedürfnis unserer Zeit"**') zu schildern versucht, das Bedürfnis nach dem Erleben starker Gefühlswerte und der Betätigung der Gefühlsseite der menschlichen Veranlagung. Der Expressio¬ nismus erscheint unter diesem Gesichtswinkel betrachtet als die Ausstrahlung *) Z. B. O, Hansson: „Der Materialismus in der Literatur." Stuttgart 1892. "*" ) Vgl. Arno Holz: „Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. 1914, Heft 5.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/325>, abgerufen am 24.07.2024.