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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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T>le Entwicklung der nationalen Tendenzen
in Österreich-Ungarn
I. I. Ruedorffer von

on den großen modernen Kulturstaaten gibt es heute nur einen,
der nicht auf die Einheit eines Volkes gestellt ist und nicht
Nationalstaat ist, Österreich-Ungarn. Wenn man die moderne
Zeit mit der Entdeckung der Nation und ihrer Verbindung mit
dem Staatsbegriff entstehen läßt, so stünde der österreichisch¬
ungarische Staat in ihr als Überbleibsel des Mittelalters allein. In der Tat
ist sein konstruktiver Typus für die Staaten des Mittelalters insofern charak¬
teristisch, als in ihnen ebenso wie in Österreich-Ungarn das Einigende die
Dynastie und nicht das Nationale war. Heute ist er einzige Ausnahme und
zeigt als solcher, wie neu und mächtig die Bewegung ist, welche die National¬
staaten schuf. Die österreichisch-ungarische Monarchie umfaßt eine bunte Menge
von Völkerschaften. Deutsche, Ungarn, Tschechen, Polen, Slowenen. Kroaten,
Italiener, Ruthenen, Rumänen. Diese Völker sind geeint unter dem Zepter des
Hauses Habsburg. Was sie zusammenhält, ist die staatliche Organisation und
eine in Jahrhunderten herangewachsene und mit zweifellosen: Geschick heran¬
gebildete Anhänglichkeit an eine Dynastie. Vor dein Erwachen der nationalen
Bewegung in der Welt war das bunte Gemisch ohne außergewöhnliche
Schwierigkeit zu regieren. Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen
die Schwierigkeiten. Das Haus Habsburg mußte seinen deutschen Einfluß an
Preußen, seine italienischen Besitzungen an Piemont abgeben und so seinen Tribut
an die nationalen Bewegungen zahlen, die sich in diesen Gebieten entfalteten und
im Rahmen des österreich-ungarischen Staats keine Erfüllung ihres Lebenswillens
finden konnten. Die Lombardei gravitierte nach Piemont' und gegen die natürliche


Grenzboten II 1914 Is


T>le Entwicklung der nationalen Tendenzen
in Österreich-Ungarn
I. I. Ruedorffer von

on den großen modernen Kulturstaaten gibt es heute nur einen,
der nicht auf die Einheit eines Volkes gestellt ist und nicht
Nationalstaat ist, Österreich-Ungarn. Wenn man die moderne
Zeit mit der Entdeckung der Nation und ihrer Verbindung mit
dem Staatsbegriff entstehen läßt, so stünde der österreichisch¬
ungarische Staat in ihr als Überbleibsel des Mittelalters allein. In der Tat
ist sein konstruktiver Typus für die Staaten des Mittelalters insofern charak¬
teristisch, als in ihnen ebenso wie in Österreich-Ungarn das Einigende die
Dynastie und nicht das Nationale war. Heute ist er einzige Ausnahme und
zeigt als solcher, wie neu und mächtig die Bewegung ist, welche die National¬
staaten schuf. Die österreichisch-ungarische Monarchie umfaßt eine bunte Menge
von Völkerschaften. Deutsche, Ungarn, Tschechen, Polen, Slowenen. Kroaten,
Italiener, Ruthenen, Rumänen. Diese Völker sind geeint unter dem Zepter des
Hauses Habsburg. Was sie zusammenhält, ist die staatliche Organisation und
eine in Jahrhunderten herangewachsene und mit zweifellosen: Geschick heran¬
gebildete Anhänglichkeit an eine Dynastie. Vor dein Erwachen der nationalen
Bewegung in der Welt war das bunte Gemisch ohne außergewöhnliche
Schwierigkeit zu regieren. Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen
die Schwierigkeiten. Das Haus Habsburg mußte seinen deutschen Einfluß an
Preußen, seine italienischen Besitzungen an Piemont abgeben und so seinen Tribut
an die nationalen Bewegungen zahlen, die sich in diesen Gebieten entfalteten und
im Rahmen des österreich-ungarischen Staats keine Erfüllung ihres Lebenswillens
finden konnten. Die Lombardei gravitierte nach Piemont' und gegen die natürliche


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[0301] [Abbildung] T>le Entwicklung der nationalen Tendenzen in Österreich-Ungarn I. I. Ruedorffer von on den großen modernen Kulturstaaten gibt es heute nur einen, der nicht auf die Einheit eines Volkes gestellt ist und nicht Nationalstaat ist, Österreich-Ungarn. Wenn man die moderne Zeit mit der Entdeckung der Nation und ihrer Verbindung mit dem Staatsbegriff entstehen läßt, so stünde der österreichisch¬ ungarische Staat in ihr als Überbleibsel des Mittelalters allein. In der Tat ist sein konstruktiver Typus für die Staaten des Mittelalters insofern charak¬ teristisch, als in ihnen ebenso wie in Österreich-Ungarn das Einigende die Dynastie und nicht das Nationale war. Heute ist er einzige Ausnahme und zeigt als solcher, wie neu und mächtig die Bewegung ist, welche die National¬ staaten schuf. Die österreichisch-ungarische Monarchie umfaßt eine bunte Menge von Völkerschaften. Deutsche, Ungarn, Tschechen, Polen, Slowenen. Kroaten, Italiener, Ruthenen, Rumänen. Diese Völker sind geeint unter dem Zepter des Hauses Habsburg. Was sie zusammenhält, ist die staatliche Organisation und eine in Jahrhunderten herangewachsene und mit zweifellosen: Geschick heran¬ gebildete Anhänglichkeit an eine Dynastie. Vor dein Erwachen der nationalen Bewegung in der Welt war das bunte Gemisch ohne außergewöhnliche Schwierigkeit zu regieren. Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen die Schwierigkeiten. Das Haus Habsburg mußte seinen deutschen Einfluß an Preußen, seine italienischen Besitzungen an Piemont abgeben und so seinen Tribut an die nationalen Bewegungen zahlen, die sich in diesen Gebieten entfalteten und im Rahmen des österreich-ungarischen Staats keine Erfüllung ihres Lebenswillens finden konnten. Die Lombardei gravitierte nach Piemont' und gegen die natürliche Grenzboten II 1914 Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/301>, abgerufen am 13.11.2024.