Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.Line sterbende Aunst Denn auch heute war uns der Gedanke gekommen, derselbe Gedanke, der (Line sterbende Aunst Dr. R. Schacht von s würde nicht nur interessant, sondern auch von mannigfachem Line sterbende Aunst Denn auch heute war uns der Gedanke gekommen, derselbe Gedanke, der (Line sterbende Aunst Dr. R. Schacht von s würde nicht nur interessant, sondern auch von mannigfachem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328391"/> <fw type="header" place="top"> Line sterbende Aunst</fw><lb/> <p xml:id="ID_1242"> Denn auch heute war uns der Gedanke gekommen, derselbe Gedanke, der<lb/> sich uns aufdrängte, als wir einst über die kahlen Berge Galiläas ritten und<lb/> drunten die leeren User des Genezareth sich aufladen, derselbe Gedanke, den<lb/> man hat, wenn man in Stratford-on-Avon in Shakespeares niedriges Haus<lb/> eintritt: der Gedanke, ob es einen Sinn hat, der Welt des Geistes nachzugehen<lb/> an ihren irdischen Stätten. Gewiß, den Geist selber findet man nicht in diesen<lb/> Dingen, aber vielleicht etwas anders: ein Stückchen Erde, das so unbedeutend<lb/> es auch sein mag, doch umwoben ist von der Erinnerung gewaltiger Schicksale,<lb/> und das vielleicht gerade deshalb, weil wir darin nur dürftige Spuren der<lb/> geistigen Welt, die es geboren hat, finden, uns den Begriff zu wecken vermag,<lb/> daß die Welt des Geistes in ihren materiellen Symbolen nur geahnt und<lb/> niemals mit Händen ergriffen werden kann.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> (Line sterbende Aunst<lb/><note type="byline"> Dr. R. Schacht</note> von</head><lb/> <p xml:id="ID_1243"> s würde nicht nur interessant, sondern auch von mannigfachem<lb/> Vorteil sein, wenn wir einmal eine Literaturgeschichte bekämen,<lb/> die nicht von der Psychologie und Geschichte des Kunstwollens,<lb/> sondern von der des Kunstbedürfnisses ausginge. Beides sällt<lb/> keineswegs immer zusammen. Kunstbedürfnis hat bei jedem nur<lb/> einigermaßen kultivierten Volke auch der Ungebildetste; von einem Kunstwollen<lb/> dagegen kann man vernünftigerweise nur reden, wo mit bewußt angewandten<lb/> Mitteln ein klar erkanntes Ziel erstrebt wird. Oder, anders ausgedrückt, die<lb/> Entwicklung des Kunstwollens gründet sich auf ästhetische Erörterung der Form.<lb/> Nun aber kann die Form ein fruchtbares Eigenleben entwickeln, das Nach¬<lb/> ahmer und Epigonen unrettbar in seinen Bann zieht, aber auch in eine im¬<lb/> ponierende Einsamkeit treiben kann, dem Auge des Literarhistorikers indessen die Ent¬<lb/> wicklung des Bedürfnisses, wie sie sich zuzeiten starker formaler Entwicklung in<lb/> der sogenannten niederen Literatur ausprägt, verdeckt. Eben die Psychologie<lb/> dieser niederen Literatur, der Sensationserfolge usw. darzustellen und zu<lb/> deuten, das würde die Aufgabe dieser neuen Literaturgeschichte sein. Erst sie<lb/> würde uns übrigens auch zu einer richtigen Würdigung der Volksdichtung<lb/> verhelfen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0291]
Line sterbende Aunst
Denn auch heute war uns der Gedanke gekommen, derselbe Gedanke, der
sich uns aufdrängte, als wir einst über die kahlen Berge Galiläas ritten und
drunten die leeren User des Genezareth sich aufladen, derselbe Gedanke, den
man hat, wenn man in Stratford-on-Avon in Shakespeares niedriges Haus
eintritt: der Gedanke, ob es einen Sinn hat, der Welt des Geistes nachzugehen
an ihren irdischen Stätten. Gewiß, den Geist selber findet man nicht in diesen
Dingen, aber vielleicht etwas anders: ein Stückchen Erde, das so unbedeutend
es auch sein mag, doch umwoben ist von der Erinnerung gewaltiger Schicksale,
und das vielleicht gerade deshalb, weil wir darin nur dürftige Spuren der
geistigen Welt, die es geboren hat, finden, uns den Begriff zu wecken vermag,
daß die Welt des Geistes in ihren materiellen Symbolen nur geahnt und
niemals mit Händen ergriffen werden kann.
(Line sterbende Aunst
Dr. R. Schacht von
s würde nicht nur interessant, sondern auch von mannigfachem
Vorteil sein, wenn wir einmal eine Literaturgeschichte bekämen,
die nicht von der Psychologie und Geschichte des Kunstwollens,
sondern von der des Kunstbedürfnisses ausginge. Beides sällt
keineswegs immer zusammen. Kunstbedürfnis hat bei jedem nur
einigermaßen kultivierten Volke auch der Ungebildetste; von einem Kunstwollen
dagegen kann man vernünftigerweise nur reden, wo mit bewußt angewandten
Mitteln ein klar erkanntes Ziel erstrebt wird. Oder, anders ausgedrückt, die
Entwicklung des Kunstwollens gründet sich auf ästhetische Erörterung der Form.
Nun aber kann die Form ein fruchtbares Eigenleben entwickeln, das Nach¬
ahmer und Epigonen unrettbar in seinen Bann zieht, aber auch in eine im¬
ponierende Einsamkeit treiben kann, dem Auge des Literarhistorikers indessen die Ent¬
wicklung des Bedürfnisses, wie sie sich zuzeiten starker formaler Entwicklung in
der sogenannten niederen Literatur ausprägt, verdeckt. Eben die Psychologie
dieser niederen Literatur, der Sensationserfolge usw. darzustellen und zu
deuten, das würde die Aufgabe dieser neuen Literaturgeschichte sein. Erst sie
würde uns übrigens auch zu einer richtigen Würdigung der Volksdichtung
verhelfen.
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