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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Literaturgeschichte

Schriften zur Literaturgeschichte. Eine
Anzahl anregender und zum Teil neues
Material verarbeitender Beiträge zur deutschen
Literaturgeschichte sind in der letzten Zeit auf
dem Büchermarkt erschienen. Beginnen wir
in chronologischer Reihenfolge: -

"Die Liebe im Liede des deutschen Mittel-
alters," so lautet der Untertitel des Büchleins,
in dem Brninier seine Anschauung über den
"Minnesang" zum Vortrag bringt (Aus
Natur und Geisteswelt. 404. Bündchen.
Leipzig und Berlin 1913, B. G. Teubner.
3 Bl., 130 S. 8°. Preis 1,25 M.). Seine
Anschauung -- denn nicht jeder wird seiner
Pessimistischen Ansicht beistimmen, die in den
Schlußworten gipfelt: "Man kann gewiß nicht
sagen, daß der deutsche Geist im Mittelalter dem
unerschöpflich reichen Liebesstoffe gegenüber sich
gewachsen gezeigt habe. Man darf sich Wundern,
daß er ihm nicht mehr und nicht Tieferes
abgewonnen hat als das, wovon die borher¬
gehenden Blätter eine Vorstellung zu ver¬
mitteln suchen." Das ist meines Trachtens
eine nicht richtige Formulierung; wollte
Bruinier zeigen, wie der "deutsche Geist" in
Poetischer Form das Thema der Liebe zu be¬
wältigen sucht, so hätte er unbedingt die mittel¬
hochdeutsche Epik mit heranziehen müssen. Aber
das lag nicht in den: Thema, das er sich
gesetzt hatte; er wollte nur die Lyrik be¬
handeln, und dann ist eben diese These, in

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die seine Schrift endet, in ihrer Verall¬
gemeinerung nicht haltbar. Aber auch über die
Lyrik urteilt für mein Empfinden Bruinier zu
hart und stellt sich zu sehr auf den Stadn-
Punkt des modernen Menschen, der natürlich
jetzt nach 700 bis 800 Jahren andere An¬
sprüche an ein Liebeslied stellt als die Menschen
des 12. und 13. Jahrhunderts. Kann ich so
in der Grundanschauung nicht mit Bruinier
übereinstimmen -- für mich gibt es nichts
Reizvolleres und Genußreicheres, als mich in
Vogts schöne neue Ausgabe von "Des Minne¬
sangs Frühling" zu versenken --, so ist sonst
seine Schrift alles Lobes würdig und bietet
eine gründliche, auf den neuesten Arbeiten
(vgl.z.V.das erste Kapitel über das"winileoä">
fußende Einführung in das Problem. Be¬
sonders ansprechend ist Heinrich von Morungen
behandelt, für den der Verfasser eine gewisse
Vorliebe hat, und wo er auch wissenschaftlich
Neues bietet; ihm gegenüber kommt mir
Walther von der Vogelweide mit seinen natur"
frischen, anmutigen und schalkhaften, aber
auch verhaltene Leidenschaftlichkeit atmenden
Minneliedern etwas zu kurz. Neidhart von
Reuental und seine Schule beschließen den
Ueberblick, in den reichliche Proben im Urtext,
glücklicherweise nicht in einer der jetzt leider
so beliebten Uebersetzungen, eingeflochten sind.

Mit dem Mittelalter beginnt auch Leo
Gternvcrg seine Schrift "Die Nassauische
Literatur. Eine Darstellung ihres gegen¬
wärtigen Standes ans der Grundlage des

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Literaturgeschichte

Schriften zur Literaturgeschichte. Eine
Anzahl anregender und zum Teil neues
Material verarbeitender Beiträge zur deutschen
Literaturgeschichte sind in der letzten Zeit auf
dem Büchermarkt erschienen. Beginnen wir
in chronologischer Reihenfolge: -

„Die Liebe im Liede des deutschen Mittel-
alters," so lautet der Untertitel des Büchleins,
in dem Brninier seine Anschauung über den
„Minnesang" zum Vortrag bringt (Aus
Natur und Geisteswelt. 404. Bündchen.
Leipzig und Berlin 1913, B. G. Teubner.
3 Bl., 130 S. 8°. Preis 1,25 M.). Seine
Anschauung — denn nicht jeder wird seiner
Pessimistischen Ansicht beistimmen, die in den
Schlußworten gipfelt: „Man kann gewiß nicht
sagen, daß der deutsche Geist im Mittelalter dem
unerschöpflich reichen Liebesstoffe gegenüber sich
gewachsen gezeigt habe. Man darf sich Wundern,
daß er ihm nicht mehr und nicht Tieferes
abgewonnen hat als das, wovon die borher¬
gehenden Blätter eine Vorstellung zu ver¬
mitteln suchen." Das ist meines Trachtens
eine nicht richtige Formulierung; wollte
Bruinier zeigen, wie der „deutsche Geist" in
Poetischer Form das Thema der Liebe zu be¬
wältigen sucht, so hätte er unbedingt die mittel¬
hochdeutsche Epik mit heranziehen müssen. Aber
das lag nicht in den: Thema, das er sich
gesetzt hatte; er wollte nur die Lyrik be¬
handeln, und dann ist eben diese These, in

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die seine Schrift endet, in ihrer Verall¬
gemeinerung nicht haltbar. Aber auch über die
Lyrik urteilt für mein Empfinden Bruinier zu
hart und stellt sich zu sehr auf den Stadn-
Punkt des modernen Menschen, der natürlich
jetzt nach 700 bis 800 Jahren andere An¬
sprüche an ein Liebeslied stellt als die Menschen
des 12. und 13. Jahrhunderts. Kann ich so
in der Grundanschauung nicht mit Bruinier
übereinstimmen — für mich gibt es nichts
Reizvolleres und Genußreicheres, als mich in
Vogts schöne neue Ausgabe von „Des Minne¬
sangs Frühling" zu versenken —, so ist sonst
seine Schrift alles Lobes würdig und bietet
eine gründliche, auf den neuesten Arbeiten
(vgl.z.V.das erste Kapitel über das„winileoä">
fußende Einführung in das Problem. Be¬
sonders ansprechend ist Heinrich von Morungen
behandelt, für den der Verfasser eine gewisse
Vorliebe hat, und wo er auch wissenschaftlich
Neues bietet; ihm gegenüber kommt mir
Walther von der Vogelweide mit seinen natur»
frischen, anmutigen und schalkhaften, aber
auch verhaltene Leidenschaftlichkeit atmenden
Minneliedern etwas zu kurz. Neidhart von
Reuental und seine Schule beschließen den
Ueberblick, in den reichliche Proben im Urtext,
glücklicherweise nicht in einer der jetzt leider
so beliebten Uebersetzungen, eingeflochten sind.

Mit dem Mittelalter beginnt auch Leo
Gternvcrg seine Schrift „Die Nassauische
Literatur. Eine Darstellung ihres gegen¬
wärtigen Standes ans der Grundlage des

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[0199] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Literaturgeschichte Schriften zur Literaturgeschichte. Eine Anzahl anregender und zum Teil neues Material verarbeitender Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte sind in der letzten Zeit auf dem Büchermarkt erschienen. Beginnen wir in chronologischer Reihenfolge: - „Die Liebe im Liede des deutschen Mittel- alters," so lautet der Untertitel des Büchleins, in dem Brninier seine Anschauung über den „Minnesang" zum Vortrag bringt (Aus Natur und Geisteswelt. 404. Bündchen. Leipzig und Berlin 1913, B. G. Teubner. 3 Bl., 130 S. 8°. Preis 1,25 M.). Seine Anschauung — denn nicht jeder wird seiner Pessimistischen Ansicht beistimmen, die in den Schlußworten gipfelt: „Man kann gewiß nicht sagen, daß der deutsche Geist im Mittelalter dem unerschöpflich reichen Liebesstoffe gegenüber sich gewachsen gezeigt habe. Man darf sich Wundern, daß er ihm nicht mehr und nicht Tieferes abgewonnen hat als das, wovon die borher¬ gehenden Blätter eine Vorstellung zu ver¬ mitteln suchen." Das ist meines Trachtens eine nicht richtige Formulierung; wollte Bruinier zeigen, wie der „deutsche Geist" in Poetischer Form das Thema der Liebe zu be¬ wältigen sucht, so hätte er unbedingt die mittel¬ hochdeutsche Epik mit heranziehen müssen. Aber das lag nicht in den: Thema, das er sich gesetzt hatte; er wollte nur die Lyrik be¬ handeln, und dann ist eben diese These, in die seine Schrift endet, in ihrer Verall¬ gemeinerung nicht haltbar. Aber auch über die Lyrik urteilt für mein Empfinden Bruinier zu hart und stellt sich zu sehr auf den Stadn- Punkt des modernen Menschen, der natürlich jetzt nach 700 bis 800 Jahren andere An¬ sprüche an ein Liebeslied stellt als die Menschen des 12. und 13. Jahrhunderts. Kann ich so in der Grundanschauung nicht mit Bruinier übereinstimmen — für mich gibt es nichts Reizvolleres und Genußreicheres, als mich in Vogts schöne neue Ausgabe von „Des Minne¬ sangs Frühling" zu versenken —, so ist sonst seine Schrift alles Lobes würdig und bietet eine gründliche, auf den neuesten Arbeiten (vgl.z.V.das erste Kapitel über das„winileoä"> fußende Einführung in das Problem. Be¬ sonders ansprechend ist Heinrich von Morungen behandelt, für den der Verfasser eine gewisse Vorliebe hat, und wo er auch wissenschaftlich Neues bietet; ihm gegenüber kommt mir Walther von der Vogelweide mit seinen natur» frischen, anmutigen und schalkhaften, aber auch verhaltene Leidenschaftlichkeit atmenden Minneliedern etwas zu kurz. Neidhart von Reuental und seine Schule beschließen den Ueberblick, in den reichliche Proben im Urtext, glücklicherweise nicht in einer der jetzt leider so beliebten Uebersetzungen, eingeflochten sind. Mit dem Mittelalter beginnt auch Leo Gternvcrg seine Schrift „Die Nassauische Literatur. Eine Darstellung ihres gegen¬ wärtigen Standes ans der Grundlage des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/199>, abgerufen am 13.11.2024.