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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel

die größte Zurückhaltung am Platze. Auch in der Zurückhaltung kann hohes
Vertrauen zum Ausdruck gebracht werden.

Der clesiclLi-atu, die Herr von Loebell auf seinem Ministerschreibtisch vor¬
finden mag, gibt es im Staate Preußen freilich eine Menge. Unsere Ost¬
markenpolitik entbehrt sichtbarer Führung; es ist schwer in ihr eine große Linie
zu erkennen. Man muß nicht unbedingt Hakatist sein, um zu fühlen, daß der
Wagen in dieser Frage'schleudert. Auch in der Behandlung der Agrarfrage
machen sich Uneinigkeit im preußischen Gesamtministerium bemerkbar. Nach
den Darlegungen verschiedener Redner auf der Tagung der Gesellschaft für
innere Kolonisation, die kürzlich unter dein Vorsitz des Frankfurter Re¬
gierungspräsidenten, Herrn von Schwerin, stattfand, wurde ausdrücklich
festgestellt, daß der Negierungseutwurf des Fideikommißgefetzes den von
feiten der Negierung ausgegebenen Richtlinien für innere Kolonisation
direkt zuwiderläuft. Eine ähnliche Zusammenhangslosigkeit läßt sich auch
in der inneren Verwaltungspolitik des Ministeriums des Innern feststellen; auch
da wird eine sichere Hand manches besser, sicherer gestalten können, als wie es
in den letzten Jahren gehandhabt wurde. Schließlich die preußische Wahlrechts¬
reform: brauchen wir wirklich eine solche, wie die Liberalen sie fordern? Könnte
das von ihnen angestrebte Ziel, den Einfluß der Bureaukratie zugunsten der
schaffenden Stände zurückzudrängen, nicht erreicht werden durch eine Erziehung
der heutigen Wähler zu freimütigem Bekenntnis ihrer politischen Anschauungen?
Solange das Bürgertum nur über den Landrat und Geheimrat schimpft und
dabei doch den Landrat als seinen Vertreter ins Abgeordnetenhaus schickt, so¬
lange kann das Bedürfnis nach liberalen Reformen nicht groß sein. Um aber
an der Stelle eines gebildeten und gesund ehrgeizigen Landrath einem ungebildeten
noch viel ehrgeizigeren Sozialdemokraten Eingang ins preußische Abgeordneten¬
haus zu verschaffen, das kann doch ernstlich nicht das Ziel einer Wahlrechts¬
reform in Preußen sein! Damit soll die Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform
in Preußen durchaus uicht verneint werden; es fragt sich nur, ob der neue
Minister des Innern schon jetzt unbedingt Vollstrecker der liberalen Reformideen
G. Lleinow sein MUß.




Reichsspiegel

die größte Zurückhaltung am Platze. Auch in der Zurückhaltung kann hohes
Vertrauen zum Ausdruck gebracht werden.

Der clesiclLi-atu, die Herr von Loebell auf seinem Ministerschreibtisch vor¬
finden mag, gibt es im Staate Preußen freilich eine Menge. Unsere Ost¬
markenpolitik entbehrt sichtbarer Führung; es ist schwer in ihr eine große Linie
zu erkennen. Man muß nicht unbedingt Hakatist sein, um zu fühlen, daß der
Wagen in dieser Frage'schleudert. Auch in der Behandlung der Agrarfrage
machen sich Uneinigkeit im preußischen Gesamtministerium bemerkbar. Nach
den Darlegungen verschiedener Redner auf der Tagung der Gesellschaft für
innere Kolonisation, die kürzlich unter dein Vorsitz des Frankfurter Re¬
gierungspräsidenten, Herrn von Schwerin, stattfand, wurde ausdrücklich
festgestellt, daß der Negierungseutwurf des Fideikommißgefetzes den von
feiten der Negierung ausgegebenen Richtlinien für innere Kolonisation
direkt zuwiderläuft. Eine ähnliche Zusammenhangslosigkeit läßt sich auch
in der inneren Verwaltungspolitik des Ministeriums des Innern feststellen; auch
da wird eine sichere Hand manches besser, sicherer gestalten können, als wie es
in den letzten Jahren gehandhabt wurde. Schließlich die preußische Wahlrechts¬
reform: brauchen wir wirklich eine solche, wie die Liberalen sie fordern? Könnte
das von ihnen angestrebte Ziel, den Einfluß der Bureaukratie zugunsten der
schaffenden Stände zurückzudrängen, nicht erreicht werden durch eine Erziehung
der heutigen Wähler zu freimütigem Bekenntnis ihrer politischen Anschauungen?
Solange das Bürgertum nur über den Landrat und Geheimrat schimpft und
dabei doch den Landrat als seinen Vertreter ins Abgeordnetenhaus schickt, so¬
lange kann das Bedürfnis nach liberalen Reformen nicht groß sein. Um aber
an der Stelle eines gebildeten und gesund ehrgeizigen Landrath einem ungebildeten
noch viel ehrgeizigeren Sozialdemokraten Eingang ins preußische Abgeordneten¬
haus zu verschaffen, das kann doch ernstlich nicht das Ziel einer Wahlrechts¬
reform in Preußen sein! Damit soll die Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform
in Preußen durchaus uicht verneint werden; es fragt sich nur, ob der neue
Minister des Innern schon jetzt unbedingt Vollstrecker der liberalen Reformideen
G. Lleinow sein MUß.




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[0198] Reichsspiegel die größte Zurückhaltung am Platze. Auch in der Zurückhaltung kann hohes Vertrauen zum Ausdruck gebracht werden. Der clesiclLi-atu, die Herr von Loebell auf seinem Ministerschreibtisch vor¬ finden mag, gibt es im Staate Preußen freilich eine Menge. Unsere Ost¬ markenpolitik entbehrt sichtbarer Führung; es ist schwer in ihr eine große Linie zu erkennen. Man muß nicht unbedingt Hakatist sein, um zu fühlen, daß der Wagen in dieser Frage'schleudert. Auch in der Behandlung der Agrarfrage machen sich Uneinigkeit im preußischen Gesamtministerium bemerkbar. Nach den Darlegungen verschiedener Redner auf der Tagung der Gesellschaft für innere Kolonisation, die kürzlich unter dein Vorsitz des Frankfurter Re¬ gierungspräsidenten, Herrn von Schwerin, stattfand, wurde ausdrücklich festgestellt, daß der Negierungseutwurf des Fideikommißgefetzes den von feiten der Negierung ausgegebenen Richtlinien für innere Kolonisation direkt zuwiderläuft. Eine ähnliche Zusammenhangslosigkeit läßt sich auch in der inneren Verwaltungspolitik des Ministeriums des Innern feststellen; auch da wird eine sichere Hand manches besser, sicherer gestalten können, als wie es in den letzten Jahren gehandhabt wurde. Schließlich die preußische Wahlrechts¬ reform: brauchen wir wirklich eine solche, wie die Liberalen sie fordern? Könnte das von ihnen angestrebte Ziel, den Einfluß der Bureaukratie zugunsten der schaffenden Stände zurückzudrängen, nicht erreicht werden durch eine Erziehung der heutigen Wähler zu freimütigem Bekenntnis ihrer politischen Anschauungen? Solange das Bürgertum nur über den Landrat und Geheimrat schimpft und dabei doch den Landrat als seinen Vertreter ins Abgeordnetenhaus schickt, so¬ lange kann das Bedürfnis nach liberalen Reformen nicht groß sein. Um aber an der Stelle eines gebildeten und gesund ehrgeizigen Landrath einem ungebildeten noch viel ehrgeizigeren Sozialdemokraten Eingang ins preußische Abgeordneten¬ haus zu verschaffen, das kann doch ernstlich nicht das Ziel einer Wahlrechts¬ reform in Preußen sein! Damit soll die Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform in Preußen durchaus uicht verneint werden; es fragt sich nur, ob der neue Minister des Innern schon jetzt unbedingt Vollstrecker der liberalen Reformideen G. Lleinow sein MUß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/198>, abgerufen am 23.06.2024.