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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Prolegomena zu aller deutsche" Meltpolitik

polnischen Staat anzugliedern, oder sich unabsehbaren Beunruhigungen und
Kämpfen auszusetzen. An eine "Einverleibung" größerer russischer Gebietsteile
ist nicht zu denken, denn dadurch würde das Wesen des Deutschen Reiches als
Nationalstaat nur gefährdet. Wir haben an einer Erbschaft aus der Zeit vor
dem Entstehen des nationalen deutschen Gedankens, an dem polnischen Wider¬
spruch in unserem Staat, der ja in jedem Sinn ein Widerspruch gegen sein
Wesen ist, schon schwer genug zu tragen. Eine Verbindung freier Völker
im Osten gegen Deutschland wäre eine viel gefährlichere Macht als die des
russischen Staates. Wir haben keinen Grund, solche Entwicklungen ohne Not
anzubahnen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß das Deutsche Reich keine Politik der
unmittelbare" Landeroberung treiben kann. Eine solche Politik wäre auf die Dauer
zur Unfruchtbarkeit verdammt. Dem entspricht auch die Grundstimmung des
deutschen Volkes! so bereit es ist, einem Gewalteingriff in seine friedliche
Daseinsentwicklung mit Einsetzung der vollen Kraft zu begegnen, so unlustig
ist es zu gewaltsamen Eingriffen in die friedlichen Entwicklungen seiner
Nachbarvölker.


4.

Fragen wir nun: welche Möglichkeiten ergäbe ein Sieg der anderen Staaten
über Deutschland? Möglichkeiten -- nicht sichere Wirklichkeiten.

Für Frankreich -- abgesehen von einigem kolonialen Zuwachs, den aber
Großbritannien nicht beträchtlich werden lassen kann -- allein die Rückeroberung
Elsaß-Lothringens. Und mit dieser Eroberung die ununterbrochene Furcht, den
Besitz zu hüten. Rußland brauchte nach einer Niederwerfung Deutschlands
keinen Wert mehr auf das Bündnis mit Frankreich zu legen, vielmehr würde
es eine gegenseitige Aufreibung der beiden Westmächte wünschen. Und da
Deutschland immer noch dem auf sich selbst gestellten Frankreich überlegen bliebe,
würde das elsaß - lothringische Standbild in Paris sich nicht allzulange der
Schleierlosigkeit erfreuen.

Für Großbritannien ist das deutsche Festland im wesentlichen unangreifbar,
es könnte höchstens dafür sorgen, daß ein paar preußische Landkreise an ein
ihm vielleicht verbündetes Dänemark fallen. Es könnte freilich auch die paar
deutschen Kolonien nehmen. Würde aber dieser Preis die ernsthafte Gefährdung
des britischen Weltreiches wert sein, wie sie unmittelbar durch eine Nieder¬
werfung des Deutschen Reiches gegeben wäre? Woher auch immer ein Angriff
auf Deutschland kommen mag: Deutschlands Niederlage würde letzten Endes
immer auch ein russischer Sieg sein. Verweilen mir einen Augenblick bei dem
Bild: Deutschland, einiger östlicher Landesteile beraubt, ein politischer Vasall
Rußlands, und, was notwendig damit verbunden ist. Österreich-Ungarn teils
in Rußland einverleibt (Galizien), teils völlig unter seinein Einfluß und jeder
selbständigen Bewegung unfähig. Oder nehmen wir auch nur an, daß durch


Prolegomena zu aller deutsche» Meltpolitik

polnischen Staat anzugliedern, oder sich unabsehbaren Beunruhigungen und
Kämpfen auszusetzen. An eine „Einverleibung" größerer russischer Gebietsteile
ist nicht zu denken, denn dadurch würde das Wesen des Deutschen Reiches als
Nationalstaat nur gefährdet. Wir haben an einer Erbschaft aus der Zeit vor
dem Entstehen des nationalen deutschen Gedankens, an dem polnischen Wider¬
spruch in unserem Staat, der ja in jedem Sinn ein Widerspruch gegen sein
Wesen ist, schon schwer genug zu tragen. Eine Verbindung freier Völker
im Osten gegen Deutschland wäre eine viel gefährlichere Macht als die des
russischen Staates. Wir haben keinen Grund, solche Entwicklungen ohne Not
anzubahnen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß das Deutsche Reich keine Politik der
unmittelbare» Landeroberung treiben kann. Eine solche Politik wäre auf die Dauer
zur Unfruchtbarkeit verdammt. Dem entspricht auch die Grundstimmung des
deutschen Volkes! so bereit es ist, einem Gewalteingriff in seine friedliche
Daseinsentwicklung mit Einsetzung der vollen Kraft zu begegnen, so unlustig
ist es zu gewaltsamen Eingriffen in die friedlichen Entwicklungen seiner
Nachbarvölker.


4.

Fragen wir nun: welche Möglichkeiten ergäbe ein Sieg der anderen Staaten
über Deutschland? Möglichkeiten — nicht sichere Wirklichkeiten.

Für Frankreich — abgesehen von einigem kolonialen Zuwachs, den aber
Großbritannien nicht beträchtlich werden lassen kann — allein die Rückeroberung
Elsaß-Lothringens. Und mit dieser Eroberung die ununterbrochene Furcht, den
Besitz zu hüten. Rußland brauchte nach einer Niederwerfung Deutschlands
keinen Wert mehr auf das Bündnis mit Frankreich zu legen, vielmehr würde
es eine gegenseitige Aufreibung der beiden Westmächte wünschen. Und da
Deutschland immer noch dem auf sich selbst gestellten Frankreich überlegen bliebe,
würde das elsaß - lothringische Standbild in Paris sich nicht allzulange der
Schleierlosigkeit erfreuen.

Für Großbritannien ist das deutsche Festland im wesentlichen unangreifbar,
es könnte höchstens dafür sorgen, daß ein paar preußische Landkreise an ein
ihm vielleicht verbündetes Dänemark fallen. Es könnte freilich auch die paar
deutschen Kolonien nehmen. Würde aber dieser Preis die ernsthafte Gefährdung
des britischen Weltreiches wert sein, wie sie unmittelbar durch eine Nieder¬
werfung des Deutschen Reiches gegeben wäre? Woher auch immer ein Angriff
auf Deutschland kommen mag: Deutschlands Niederlage würde letzten Endes
immer auch ein russischer Sieg sein. Verweilen mir einen Augenblick bei dem
Bild: Deutschland, einiger östlicher Landesteile beraubt, ein politischer Vasall
Rußlands, und, was notwendig damit verbunden ist. Österreich-Ungarn teils
in Rußland einverleibt (Galizien), teils völlig unter seinein Einfluß und jeder
selbständigen Bewegung unfähig. Oder nehmen wir auch nur an, daß durch


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[0114] Prolegomena zu aller deutsche» Meltpolitik polnischen Staat anzugliedern, oder sich unabsehbaren Beunruhigungen und Kämpfen auszusetzen. An eine „Einverleibung" größerer russischer Gebietsteile ist nicht zu denken, denn dadurch würde das Wesen des Deutschen Reiches als Nationalstaat nur gefährdet. Wir haben an einer Erbschaft aus der Zeit vor dem Entstehen des nationalen deutschen Gedankens, an dem polnischen Wider¬ spruch in unserem Staat, der ja in jedem Sinn ein Widerspruch gegen sein Wesen ist, schon schwer genug zu tragen. Eine Verbindung freier Völker im Osten gegen Deutschland wäre eine viel gefährlichere Macht als die des russischen Staates. Wir haben keinen Grund, solche Entwicklungen ohne Not anzubahnen. Aus diesen Erwägungen folgt, daß das Deutsche Reich keine Politik der unmittelbare» Landeroberung treiben kann. Eine solche Politik wäre auf die Dauer zur Unfruchtbarkeit verdammt. Dem entspricht auch die Grundstimmung des deutschen Volkes! so bereit es ist, einem Gewalteingriff in seine friedliche Daseinsentwicklung mit Einsetzung der vollen Kraft zu begegnen, so unlustig ist es zu gewaltsamen Eingriffen in die friedlichen Entwicklungen seiner Nachbarvölker. 4. Fragen wir nun: welche Möglichkeiten ergäbe ein Sieg der anderen Staaten über Deutschland? Möglichkeiten — nicht sichere Wirklichkeiten. Für Frankreich — abgesehen von einigem kolonialen Zuwachs, den aber Großbritannien nicht beträchtlich werden lassen kann — allein die Rückeroberung Elsaß-Lothringens. Und mit dieser Eroberung die ununterbrochene Furcht, den Besitz zu hüten. Rußland brauchte nach einer Niederwerfung Deutschlands keinen Wert mehr auf das Bündnis mit Frankreich zu legen, vielmehr würde es eine gegenseitige Aufreibung der beiden Westmächte wünschen. Und da Deutschland immer noch dem auf sich selbst gestellten Frankreich überlegen bliebe, würde das elsaß - lothringische Standbild in Paris sich nicht allzulange der Schleierlosigkeit erfreuen. Für Großbritannien ist das deutsche Festland im wesentlichen unangreifbar, es könnte höchstens dafür sorgen, daß ein paar preußische Landkreise an ein ihm vielleicht verbündetes Dänemark fallen. Es könnte freilich auch die paar deutschen Kolonien nehmen. Würde aber dieser Preis die ernsthafte Gefährdung des britischen Weltreiches wert sein, wie sie unmittelbar durch eine Nieder¬ werfung des Deutschen Reiches gegeben wäre? Woher auch immer ein Angriff auf Deutschland kommen mag: Deutschlands Niederlage würde letzten Endes immer auch ein russischer Sieg sein. Verweilen mir einen Augenblick bei dem Bild: Deutschland, einiger östlicher Landesteile beraubt, ein politischer Vasall Rußlands, und, was notwendig damit verbunden ist. Österreich-Ungarn teils in Rußland einverleibt (Galizien), teils völlig unter seinein Einfluß und jeder selbständigen Bewegung unfähig. Oder nehmen wir auch nur an, daß durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/114>, abgerufen am 13.11.2024.