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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Prolegomena zu aller deutschen Iveltpolitik

durch das Verhältnis zu England bestimmt wird, nur den Zweck der Verteidi¬
gung und der Vorbeugung haben kann: den verantwortlichen britischen Staats¬
männern das Wagnis eines Krieges mit Deutschland möglichst schwierig zu
machen und, wenn doch ein Angriff erfolgt, die völlige Wehrlosmachung Deutsch¬
lands zu verhindern. Selbst wenn die berühmte "Überrumpelung" Englands
für den Augenblick gelänge: solch ein Einzelerfolg würde schwerlich den Unter¬
schied des Kräftegewichts und die Verschiedenartigkeit dieser Kräfte sowie die
geographischen Verhältnisse dauernd unwirksam machen können. Ein deutscher
Staatsmann wäre darum nicht in der Lage, die Verantwortung für einen
"Eroberungskrieg" gegen das britische Reich zu übernehmen.

Anders liegen die Möglichkeiten gegenüber Rußland. Freilich ist das
russische Heer dem unsrigen ziffernmäßig überlegen und müssen wir auch damit
rechnen, daß seine Beweglichkeit und Verwendbarkeit durch die Verbesserung der
Verkehrsmittel sowie durch eine zunehmende Kultur des Landes sich steigern,
seine Beschaffenheit sich bessern wird. Aber eine Schwäche Rußlands läßt sich
mit Soldaten nicht beheben: der innere Aufbau des Reiches. Man darf
die beiden Staatsgebilde Rußland und Österreich-Ungarn ihrer Art nach nicht
einfach den westeuropäischen Großstaaten als einheitliche Machtgebilde gleichsetzen:
sie sind nicht Volksstaaten, sondern Völkerstaaten. Was das bedeutet, zeigt sich
in Österreich, entsprechend seiner vorgeschritteneren Kultur, am deutlichsten. Ru߬
land ist noch nicht bis zu dem Grad der inneren Reibungen gelangt. Es sucht
auch der drohenden Zersetzung durch angestrengte "Russifizierung" seiner Völker
entgegenzuwirken. Doch, es ist mehr als fraglich, ob die versuchte Unterdrückung
der Volksart bei Völkern von der Geschichte des polnischen und von der Kultur
des finnischen Erfolg hat. Wird sich daneben das sehr starke ruthenische (klein¬
russische) Volk seiner Sonderart gegenüber dem herrschenden großrussischen bewußt
und folgen kleinere Völker dieser allgemeinen Entwicklung, so müssen durch den
Ruf nach freier Selbstbestimmung im Gesamtstaat schwere Spannungen entstehen.
Vermag schon das sehr dehnbare Gummi des österreichischen Staatsverbandes
die auseinanderstrebenden Kräfte nur mühsam zusammenzuhalten, so wird das
Eisen des russischen Bandes dazu noch weniger imstande sein. Gewaltherrschaft
erzeugt Haß, und die bedrängte,: Völker sehen schließlich in ihr den gemeinsamen,
um jeden Preis zu vernichtenden Feind. Welchen Grund hat ein Volk, sich für
einen feindlichen Staat einzusetzen? Käme in diese Verhältnisse ein deutscher
Angriff mit der ausgesprochenen Absicht einer Befreiung und Verselb¬
ständigung der Völker Rußlands, so wäre ein Sieg möglich, zumal ein Echo in
Ostasien kaum ausbleiben würde, und dieser Sieg würde wahrscheinlich für die
künftige Geschichte eine der größten Kulturtaten sein, denn er würde viele
schlummernde Entwicklungsmöglichkeiten frei machen.

Aber welchen Vorteil sollte das Deutsche Reich davon haben? Die Ver-
Hältnisse zwängen es, ein polnisches Reich zu schaffen, und damit stellte es sich
vor die Entscheidung: entweder die polnischen Landesteile Preußens einem groß-


Prolegomena zu aller deutschen Iveltpolitik

durch das Verhältnis zu England bestimmt wird, nur den Zweck der Verteidi¬
gung und der Vorbeugung haben kann: den verantwortlichen britischen Staats¬
männern das Wagnis eines Krieges mit Deutschland möglichst schwierig zu
machen und, wenn doch ein Angriff erfolgt, die völlige Wehrlosmachung Deutsch¬
lands zu verhindern. Selbst wenn die berühmte „Überrumpelung" Englands
für den Augenblick gelänge: solch ein Einzelerfolg würde schwerlich den Unter¬
schied des Kräftegewichts und die Verschiedenartigkeit dieser Kräfte sowie die
geographischen Verhältnisse dauernd unwirksam machen können. Ein deutscher
Staatsmann wäre darum nicht in der Lage, die Verantwortung für einen
„Eroberungskrieg" gegen das britische Reich zu übernehmen.

Anders liegen die Möglichkeiten gegenüber Rußland. Freilich ist das
russische Heer dem unsrigen ziffernmäßig überlegen und müssen wir auch damit
rechnen, daß seine Beweglichkeit und Verwendbarkeit durch die Verbesserung der
Verkehrsmittel sowie durch eine zunehmende Kultur des Landes sich steigern,
seine Beschaffenheit sich bessern wird. Aber eine Schwäche Rußlands läßt sich
mit Soldaten nicht beheben: der innere Aufbau des Reiches. Man darf
die beiden Staatsgebilde Rußland und Österreich-Ungarn ihrer Art nach nicht
einfach den westeuropäischen Großstaaten als einheitliche Machtgebilde gleichsetzen:
sie sind nicht Volksstaaten, sondern Völkerstaaten. Was das bedeutet, zeigt sich
in Österreich, entsprechend seiner vorgeschritteneren Kultur, am deutlichsten. Ru߬
land ist noch nicht bis zu dem Grad der inneren Reibungen gelangt. Es sucht
auch der drohenden Zersetzung durch angestrengte „Russifizierung" seiner Völker
entgegenzuwirken. Doch, es ist mehr als fraglich, ob die versuchte Unterdrückung
der Volksart bei Völkern von der Geschichte des polnischen und von der Kultur
des finnischen Erfolg hat. Wird sich daneben das sehr starke ruthenische (klein¬
russische) Volk seiner Sonderart gegenüber dem herrschenden großrussischen bewußt
und folgen kleinere Völker dieser allgemeinen Entwicklung, so müssen durch den
Ruf nach freier Selbstbestimmung im Gesamtstaat schwere Spannungen entstehen.
Vermag schon das sehr dehnbare Gummi des österreichischen Staatsverbandes
die auseinanderstrebenden Kräfte nur mühsam zusammenzuhalten, so wird das
Eisen des russischen Bandes dazu noch weniger imstande sein. Gewaltherrschaft
erzeugt Haß, und die bedrängte,: Völker sehen schließlich in ihr den gemeinsamen,
um jeden Preis zu vernichtenden Feind. Welchen Grund hat ein Volk, sich für
einen feindlichen Staat einzusetzen? Käme in diese Verhältnisse ein deutscher
Angriff mit der ausgesprochenen Absicht einer Befreiung und Verselb¬
ständigung der Völker Rußlands, so wäre ein Sieg möglich, zumal ein Echo in
Ostasien kaum ausbleiben würde, und dieser Sieg würde wahrscheinlich für die
künftige Geschichte eine der größten Kulturtaten sein, denn er würde viele
schlummernde Entwicklungsmöglichkeiten frei machen.

Aber welchen Vorteil sollte das Deutsche Reich davon haben? Die Ver-
Hältnisse zwängen es, ein polnisches Reich zu schaffen, und damit stellte es sich
vor die Entscheidung: entweder die polnischen Landesteile Preußens einem groß-


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[0113] Prolegomena zu aller deutschen Iveltpolitik durch das Verhältnis zu England bestimmt wird, nur den Zweck der Verteidi¬ gung und der Vorbeugung haben kann: den verantwortlichen britischen Staats¬ männern das Wagnis eines Krieges mit Deutschland möglichst schwierig zu machen und, wenn doch ein Angriff erfolgt, die völlige Wehrlosmachung Deutsch¬ lands zu verhindern. Selbst wenn die berühmte „Überrumpelung" Englands für den Augenblick gelänge: solch ein Einzelerfolg würde schwerlich den Unter¬ schied des Kräftegewichts und die Verschiedenartigkeit dieser Kräfte sowie die geographischen Verhältnisse dauernd unwirksam machen können. Ein deutscher Staatsmann wäre darum nicht in der Lage, die Verantwortung für einen „Eroberungskrieg" gegen das britische Reich zu übernehmen. Anders liegen die Möglichkeiten gegenüber Rußland. Freilich ist das russische Heer dem unsrigen ziffernmäßig überlegen und müssen wir auch damit rechnen, daß seine Beweglichkeit und Verwendbarkeit durch die Verbesserung der Verkehrsmittel sowie durch eine zunehmende Kultur des Landes sich steigern, seine Beschaffenheit sich bessern wird. Aber eine Schwäche Rußlands läßt sich mit Soldaten nicht beheben: der innere Aufbau des Reiches. Man darf die beiden Staatsgebilde Rußland und Österreich-Ungarn ihrer Art nach nicht einfach den westeuropäischen Großstaaten als einheitliche Machtgebilde gleichsetzen: sie sind nicht Volksstaaten, sondern Völkerstaaten. Was das bedeutet, zeigt sich in Österreich, entsprechend seiner vorgeschritteneren Kultur, am deutlichsten. Ru߬ land ist noch nicht bis zu dem Grad der inneren Reibungen gelangt. Es sucht auch der drohenden Zersetzung durch angestrengte „Russifizierung" seiner Völker entgegenzuwirken. Doch, es ist mehr als fraglich, ob die versuchte Unterdrückung der Volksart bei Völkern von der Geschichte des polnischen und von der Kultur des finnischen Erfolg hat. Wird sich daneben das sehr starke ruthenische (klein¬ russische) Volk seiner Sonderart gegenüber dem herrschenden großrussischen bewußt und folgen kleinere Völker dieser allgemeinen Entwicklung, so müssen durch den Ruf nach freier Selbstbestimmung im Gesamtstaat schwere Spannungen entstehen. Vermag schon das sehr dehnbare Gummi des österreichischen Staatsverbandes die auseinanderstrebenden Kräfte nur mühsam zusammenzuhalten, so wird das Eisen des russischen Bandes dazu noch weniger imstande sein. Gewaltherrschaft erzeugt Haß, und die bedrängte,: Völker sehen schließlich in ihr den gemeinsamen, um jeden Preis zu vernichtenden Feind. Welchen Grund hat ein Volk, sich für einen feindlichen Staat einzusetzen? Käme in diese Verhältnisse ein deutscher Angriff mit der ausgesprochenen Absicht einer Befreiung und Verselb¬ ständigung der Völker Rußlands, so wäre ein Sieg möglich, zumal ein Echo in Ostasien kaum ausbleiben würde, und dieser Sieg würde wahrscheinlich für die künftige Geschichte eine der größten Kulturtaten sein, denn er würde viele schlummernde Entwicklungsmöglichkeiten frei machen. Aber welchen Vorteil sollte das Deutsche Reich davon haben? Die Ver- Hältnisse zwängen es, ein polnisches Reich zu schaffen, und damit stellte es sich vor die Entscheidung: entweder die polnischen Landesteile Preußens einem groß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/113>, abgerufen am 25.07.2024.