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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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auch, ein warnendes Zurück! ertönen läßt.
In der Rückkehr zur Natur, zur Volkstüm¬
lichkeit sieht er die Möglichkeit der Gesundung,
denn nicht aus der Unterdrückung all jener
ringenden, flutenden Kräfte kann das Heil zu
erwarten sein, sondern aus ihrer bewußten
Hinwendung zu dem alten, heiligen Mutter-
boden, in dem auch ihre Wurzeln ruhen, zum
Vaterlande, zur Heimat, und in diesem Sinne
schließt er mit einem goldenen Wort Wilhelm
Naabes, das der moderne Künstler ganz be¬
sonders beherzigen möge: "Vergesse ich dein,
Deutschland, großes Vaterland: so werde
meiner Rechten bergessenI Ich sage dir,
Künstler, wes Vaterlandes du seist: Vergißt
du deiner Heimat, so werde deiner Kunst
vergessen! Denn unzerstörbar sind die Wurzeln,
die deine Heimat einst in dein Herz hinab
senkte. Ohne ein Heimatsgefühl, ohne ein
kindliches Herz aber bleibt deine Kunst eine
tönende Scheitel"

Der Ausdruck ist nicht immer frei von
Gesuchtheiten, der Stil zuweilen etwas schwer¬
flüssig und eigenwillig, den Norddeutschen
verratend. Lange, mit Namen vollgepfropfte
Satzperioden erschweren nicht selten den Über¬
blick, Doch das sind Äußerlichkeiten, die
gegenüber dem trefflichen Kern nicht besonders
w die Wagschale fallen und bei einer Neu¬
auflage sich leicht beseitigen lassen. Daß diese
bald notwendig werde, wünschen wir dem
wackeren Buche von Herzen.

H. Seeliger
schöne Literatur

Aus der Masse der Goethe - Literatur der
letzten Jahre ist als besonders charakteristisch
die Stockmannschc Bearbeitung von Alexander
Baumgartners Goethe - Biographie zu ver¬
zeichnen. (Dritte, neubearbeitete Auflage 1.
bis 4. Tausend. XXVI 5S9, XX 742 S. 8°.
Freiburg, Herder, 1911, 1S13. 27 Mark.)
Einmal der prinzipiellen Stellungnahme
Wegen deshalb, weil sich das Buch in den
Grundlinien, auf denen es aufgebaut ist,
völlig absondert von den für die Beurteilung
einer dichterischen Persönlichkeit sür gewöhn¬
lich als richtig anerkannten. Es muß hervor¬
gehoben werden, daß in der Neubearbeitung
Stockmanns vieles gegen Baumgarlners

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schroffe Stellungnahme gemildert erscheint.
Daß es jedoch unmöglich ist, religiös-sittliche
Motive ausschließlich ausschlaggebend sein zu
lassen und danach die Gesamterscheinung
eines Mannes und sein Schaffen zu bewerten,
lehrt auch diese Neubearbeitung aufs deut¬
lichste. Das Gesamtbild wird bei einer der¬
artigen extremen Prinzipiellen Ausfassung von
vornherein verzerrt erscheinen müssen, und
daran kann auch das uneingeschränkte Lob,
das gelegentlich im einzelnen Falle gespendet
wird, nichts wesentliches ändern. Ein so
hoch gespanntes Maß der Kritik anlegen und
danach urteilen zu wollen, heißt gerade bei
Goethe seine dichterische Persönlichkeit vor¬
sätzlich anders beimessen, als er es selbst
wollte; für eine objektive Würdigung ist da¬
mit wenig oder gar nichts erreicht.

Das Hauptgewicht deS Buches beruht in
der folgerichtigen Durchführung dieser prinzi¬
piellen Stellungnahme, worin es sich von
den meisten anderen Goethe-Biographien
unterscheidet. Die äußere Lebensgeschichte
des vielgeschäftigen und vielbeschäftigten Alt¬
meisters von Weimar erscheint hier in un¬
gleich höherem Maße zur Bewertung seines
Gesamtwertes herangezogen, als unbedingt
erforderlich wäre. Die bisweilen bis zu
peinlicher Offenheit gesteigerte Kritiksucht des
Verfassers kann Goethes Größe im ganzen
nicht herabmindern. Allerdings ist ihm
zuzubilligen, daß sein Buch nicht so sehr ein
Tenoenzwerk gegen Goethe selbst sein soll,
daß es vielmehr aus deur gesunden Wider¬
spruchsrechte gegen die immer mehr überhand¬
nehmende, in blindem Eifer alles verhimmelnde
Goethe-Verehrung erwachsen ist. Stockmanns
Kritizismus wendet sich hierbei hauptsächlich
gegen die Auswüchse der modernen Goethe-
Philologie.

Aber auch für den, der in den Grund¬
fragen anderer Meinung ist als der Verfasser,
bietet die Lektüre deS Buches eine Fülle von
Anregungen durch die Methode seiner Be¬
weisführung und die Eigenart seiner Auf¬
fassungsweise. Die breite Darstellung selbst
(charakteristisch ist die Wahl der "schmückenden"
Beiwörter) ist etwas ungleich und fällt gegen
Schluß ab. In der mit regem Fleiße er¬
strebten, selbst noch die letzten wichtigen Neu¬
erscheinungen berücksichtigenden Vollständig-

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auch, ein warnendes Zurück! ertönen läßt.
In der Rückkehr zur Natur, zur Volkstüm¬
lichkeit sieht er die Möglichkeit der Gesundung,
denn nicht aus der Unterdrückung all jener
ringenden, flutenden Kräfte kann das Heil zu
erwarten sein, sondern aus ihrer bewußten
Hinwendung zu dem alten, heiligen Mutter-
boden, in dem auch ihre Wurzeln ruhen, zum
Vaterlande, zur Heimat, und in diesem Sinne
schließt er mit einem goldenen Wort Wilhelm
Naabes, das der moderne Künstler ganz be¬
sonders beherzigen möge: „Vergesse ich dein,
Deutschland, großes Vaterland: so werde
meiner Rechten bergessenI Ich sage dir,
Künstler, wes Vaterlandes du seist: Vergißt
du deiner Heimat, so werde deiner Kunst
vergessen! Denn unzerstörbar sind die Wurzeln,
die deine Heimat einst in dein Herz hinab
senkte. Ohne ein Heimatsgefühl, ohne ein
kindliches Herz aber bleibt deine Kunst eine
tönende Scheitel"

Der Ausdruck ist nicht immer frei von
Gesuchtheiten, der Stil zuweilen etwas schwer¬
flüssig und eigenwillig, den Norddeutschen
verratend. Lange, mit Namen vollgepfropfte
Satzperioden erschweren nicht selten den Über¬
blick, Doch das sind Äußerlichkeiten, die
gegenüber dem trefflichen Kern nicht besonders
w die Wagschale fallen und bei einer Neu¬
auflage sich leicht beseitigen lassen. Daß diese
bald notwendig werde, wünschen wir dem
wackeren Buche von Herzen.

H. Seeliger
schöne Literatur

Aus der Masse der Goethe - Literatur der
letzten Jahre ist als besonders charakteristisch
die Stockmannschc Bearbeitung von Alexander
Baumgartners Goethe - Biographie zu ver¬
zeichnen. (Dritte, neubearbeitete Auflage 1.
bis 4. Tausend. XXVI 5S9, XX 742 S. 8°.
Freiburg, Herder, 1911, 1S13. 27 Mark.)
Einmal der prinzipiellen Stellungnahme
Wegen deshalb, weil sich das Buch in den
Grundlinien, auf denen es aufgebaut ist,
völlig absondert von den für die Beurteilung
einer dichterischen Persönlichkeit sür gewöhn¬
lich als richtig anerkannten. Es muß hervor¬
gehoben werden, daß in der Neubearbeitung
Stockmanns vieles gegen Baumgarlners

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schroffe Stellungnahme gemildert erscheint.
Daß es jedoch unmöglich ist, religiös-sittliche
Motive ausschließlich ausschlaggebend sein zu
lassen und danach die Gesamterscheinung
eines Mannes und sein Schaffen zu bewerten,
lehrt auch diese Neubearbeitung aufs deut¬
lichste. Das Gesamtbild wird bei einer der¬
artigen extremen Prinzipiellen Ausfassung von
vornherein verzerrt erscheinen müssen, und
daran kann auch das uneingeschränkte Lob,
das gelegentlich im einzelnen Falle gespendet
wird, nichts wesentliches ändern. Ein so
hoch gespanntes Maß der Kritik anlegen und
danach urteilen zu wollen, heißt gerade bei
Goethe seine dichterische Persönlichkeit vor¬
sätzlich anders beimessen, als er es selbst
wollte; für eine objektive Würdigung ist da¬
mit wenig oder gar nichts erreicht.

Das Hauptgewicht deS Buches beruht in
der folgerichtigen Durchführung dieser prinzi¬
piellen Stellungnahme, worin es sich von
den meisten anderen Goethe-Biographien
unterscheidet. Die äußere Lebensgeschichte
des vielgeschäftigen und vielbeschäftigten Alt¬
meisters von Weimar erscheint hier in un¬
gleich höherem Maße zur Bewertung seines
Gesamtwertes herangezogen, als unbedingt
erforderlich wäre. Die bisweilen bis zu
peinlicher Offenheit gesteigerte Kritiksucht des
Verfassers kann Goethes Größe im ganzen
nicht herabmindern. Allerdings ist ihm
zuzubilligen, daß sein Buch nicht so sehr ein
Tenoenzwerk gegen Goethe selbst sein soll,
daß es vielmehr aus deur gesunden Wider¬
spruchsrechte gegen die immer mehr überhand¬
nehmende, in blindem Eifer alles verhimmelnde
Goethe-Verehrung erwachsen ist. Stockmanns
Kritizismus wendet sich hierbei hauptsächlich
gegen die Auswüchse der modernen Goethe-
Philologie.

Aber auch für den, der in den Grund¬
fragen anderer Meinung ist als der Verfasser,
bietet die Lektüre deS Buches eine Fülle von
Anregungen durch die Methode seiner Be¬
weisführung und die Eigenart seiner Auf¬
fassungsweise. Die breite Darstellung selbst
(charakteristisch ist die Wahl der „schmückenden"
Beiwörter) ist etwas ungleich und fällt gegen
Schluß ab. In der mit regem Fleiße er¬
strebten, selbst noch die letzten wichtigen Neu¬
erscheinungen berücksichtigenden Vollständig-

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[0489] auch, ein warnendes Zurück! ertönen läßt. In der Rückkehr zur Natur, zur Volkstüm¬ lichkeit sieht er die Möglichkeit der Gesundung, denn nicht aus der Unterdrückung all jener ringenden, flutenden Kräfte kann das Heil zu erwarten sein, sondern aus ihrer bewußten Hinwendung zu dem alten, heiligen Mutter- boden, in dem auch ihre Wurzeln ruhen, zum Vaterlande, zur Heimat, und in diesem Sinne schließt er mit einem goldenen Wort Wilhelm Naabes, das der moderne Künstler ganz be¬ sonders beherzigen möge: „Vergesse ich dein, Deutschland, großes Vaterland: so werde meiner Rechten bergessenI Ich sage dir, Künstler, wes Vaterlandes du seist: Vergißt du deiner Heimat, so werde deiner Kunst vergessen! Denn unzerstörbar sind die Wurzeln, die deine Heimat einst in dein Herz hinab senkte. Ohne ein Heimatsgefühl, ohne ein kindliches Herz aber bleibt deine Kunst eine tönende Scheitel" Der Ausdruck ist nicht immer frei von Gesuchtheiten, der Stil zuweilen etwas schwer¬ flüssig und eigenwillig, den Norddeutschen verratend. Lange, mit Namen vollgepfropfte Satzperioden erschweren nicht selten den Über¬ blick, Doch das sind Äußerlichkeiten, die gegenüber dem trefflichen Kern nicht besonders w die Wagschale fallen und bei einer Neu¬ auflage sich leicht beseitigen lassen. Daß diese bald notwendig werde, wünschen wir dem wackeren Buche von Herzen. H. Seeliger schöne Literatur Aus der Masse der Goethe - Literatur der letzten Jahre ist als besonders charakteristisch die Stockmannschc Bearbeitung von Alexander Baumgartners Goethe - Biographie zu ver¬ zeichnen. (Dritte, neubearbeitete Auflage 1. bis 4. Tausend. XXVI 5S9, XX 742 S. 8°. Freiburg, Herder, 1911, 1S13. 27 Mark.) Einmal der prinzipiellen Stellungnahme Wegen deshalb, weil sich das Buch in den Grundlinien, auf denen es aufgebaut ist, völlig absondert von den für die Beurteilung einer dichterischen Persönlichkeit sür gewöhn¬ lich als richtig anerkannten. Es muß hervor¬ gehoben werden, daß in der Neubearbeitung Stockmanns vieles gegen Baumgarlners schroffe Stellungnahme gemildert erscheint. Daß es jedoch unmöglich ist, religiös-sittliche Motive ausschließlich ausschlaggebend sein zu lassen und danach die Gesamterscheinung eines Mannes und sein Schaffen zu bewerten, lehrt auch diese Neubearbeitung aufs deut¬ lichste. Das Gesamtbild wird bei einer der¬ artigen extremen Prinzipiellen Ausfassung von vornherein verzerrt erscheinen müssen, und daran kann auch das uneingeschränkte Lob, das gelegentlich im einzelnen Falle gespendet wird, nichts wesentliches ändern. Ein so hoch gespanntes Maß der Kritik anlegen und danach urteilen zu wollen, heißt gerade bei Goethe seine dichterische Persönlichkeit vor¬ sätzlich anders beimessen, als er es selbst wollte; für eine objektive Würdigung ist da¬ mit wenig oder gar nichts erreicht. Das Hauptgewicht deS Buches beruht in der folgerichtigen Durchführung dieser prinzi¬ piellen Stellungnahme, worin es sich von den meisten anderen Goethe-Biographien unterscheidet. Die äußere Lebensgeschichte des vielgeschäftigen und vielbeschäftigten Alt¬ meisters von Weimar erscheint hier in un¬ gleich höherem Maße zur Bewertung seines Gesamtwertes herangezogen, als unbedingt erforderlich wäre. Die bisweilen bis zu peinlicher Offenheit gesteigerte Kritiksucht des Verfassers kann Goethes Größe im ganzen nicht herabmindern. Allerdings ist ihm zuzubilligen, daß sein Buch nicht so sehr ein Tenoenzwerk gegen Goethe selbst sein soll, daß es vielmehr aus deur gesunden Wider¬ spruchsrechte gegen die immer mehr überhand¬ nehmende, in blindem Eifer alles verhimmelnde Goethe-Verehrung erwachsen ist. Stockmanns Kritizismus wendet sich hierbei hauptsächlich gegen die Auswüchse der modernen Goethe- Philologie. Aber auch für den, der in den Grund¬ fragen anderer Meinung ist als der Verfasser, bietet die Lektüre deS Buches eine Fülle von Anregungen durch die Methode seiner Be¬ weisführung und die Eigenart seiner Auf¬ fassungsweise. Die breite Darstellung selbst (charakteristisch ist die Wahl der „schmückenden" Beiwörter) ist etwas ungleich und fällt gegen Schluß ab. In der mit regem Fleiße er¬ strebten, selbst noch die letzten wichtigen Neu¬ erscheinungen berücksichtigenden Vollständig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/489>, abgerufen am 28.12.2024.