Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] sein --, uns umbrandet noch der Parteihader Indes das läßt sich ja bei einer Neuauf¬ bemerkt, daß Niemnnn seine Darstellung auf Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] sein —, uns umbrandet noch der Parteihader Indes das läßt sich ja bei einer Neuauf¬ bemerkt, daß Niemnnn seine Darstellung auf <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0488" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327954"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_2292" prev="#ID_2291"> sein —, uns umbrandet noch der Parteihader<lb/> des Für und Wider die neuen Kräfte, die<lb/> namentlich in den letzten zwei Jahrzehnten<lb/> protuberanzengleich aus dem Chaos hervor¬<lb/> geschossen sind: wer es also unternimmt mit<lb/> kritischer Sonde die musikalischen Strömungen<lb/> unserer Tage zu untersuchen, kann, meiner<lb/> Ansicht nach, von keinem anderen als vor¬<lb/> wiegend subjektiven Standpunkt urteilen, wenn<lb/> nicht sein Werk eine trockene Nomenklatur<lb/> werden oder in Philologischem Detail sich<lb/> verlieren soll. Von solcher Art, d, h. sub¬<lb/> jektiv, ist Niemanns Buch, aber von einem<lb/> Subjektivismus, der nicht aus einem Partei¬<lb/> standpunkt geboren, sondern das Ergebnis<lb/> erlebter Eindrücke und darum auch fähig ist,<lb/> so widersprechend es klingen mag, objektiv zu ur¬<lb/> teilen und dem Gegner alle Gerechtigkeit wider¬<lb/> fahren zu lassen. In der Vorrede stellt sich<lb/> der Verfasser als einen der unerschütterlichen<lb/> Starr- und Dickköpfe von Holsteinblut vor,<lb/> „die den Mut der Überzeugung als den besten<lb/> Teil eines Charakters um keinen Preis dahin-<lb/> fahren lassen"; nun, man glaubt es ihm nach<lb/> der Lektüre seines Buches aufs Wort und hat<lb/> seine herzliche Freude daran, Freude an der<lb/> Unerschrockenheit und dem Wahrheitsdrang<lb/> eines urgesunden Idealismus und an der<lb/> innigen Heimathliebe, die immer wieder<lb/> daraus hervorleuchtet und dem Werke eine<lb/> so besonders sympathische Note gibt. Es ist<lb/> ein echt deutsches Buch. Staunenswert ist<lb/> die Fülle des ausgearbeiteten Materials, die<lb/> geradezu Phänomenale Kenntnis der Musik¬<lb/> literatur, die der Verfasser bekundet, ohne<lb/> dabei selbst den Anspruch auf Vollständigkeit<lb/> zu erheben. Und gerade wegen der Nennung<lb/> so vieler, teilweise sogar bedeutungsloser Kom¬<lb/> ponisten fällt die Auslassung zweier markanter<lb/> Künstlerindividualitäten wie die Moszkowskis<lb/> und des erfindungsreicheren und feineren<lb/> Schütt auf, bei den Skandinaviern fehlen<lb/> Börresen und Alnaes, bei den Russen<lb/> Sapellnikow. Auch für einen Beitrag zur<lb/> Beantwortung der von A. Seidel (Kunst und<lb/> Kultur, Schuster u. Löffler) aufgeworfenen<lb/> Frage „Was dunkel euch um Peter Gast?"<lb/> würden wir dankbar gewesen sein.</p> <p xml:id="ID_2293" next="#ID_2294"> Indes das läßt sich ja bei einer Neuauf¬<lb/> lage alles nachholen. Um nun in einigem<lb/> auf das Buch genauer einzugehen, sei zunächst</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_2294" prev="#ID_2293" next="#ID_2295"> bemerkt, daß Niemnnn seine Darstellung auf<lb/> dem festen Boden der sogenannten kultur¬<lb/> geschichtlichen Methode aufbaut. Das ist durch¬<lb/> aus zu loben; ohne die feste Grundlage ethno¬<lb/> graphischer, klimatischer, wirtschaftlicher und<lb/> allgemein kultureller Verhältnisse hängt die<lb/> Darstellung jedes seelischen Geschehens, und<lb/> das ist alle Geschichte, in der Luft. Ganz so<lb/> tief baut er freilich nicht und so neu, wie er<lb/> meint, ist ihre Anwendung in der Musik¬<lb/> geschichte auch nicht, wie vereinzelte Mono¬<lb/> graphien bezeugen, wenn auch jene Faktoren<lb/> in Allgemeindarstellungen allerdings bisher<lb/> so gut wie gar nicht berücksichtigt worden<lb/> sind. Durch die daraus sich von selbst ergebende<lb/> Heranziehung der Schwesterkünste gewinnt die<lb/> Darstellung an Vertiefung und Perspektive.<lb/> Aus den vier Büchern, in die eS zerfällt —<lb/> Romantik und Klassizismus; Neuromantik; die<lb/> Moderne; Nation, Volk, Stamm — einzelne<lb/> an dieser Stelle herausheben zu wollen, würde<lb/> zu weit führen, ihre Nennung genügt zur<lb/> Orientierung über die Anlage des Werkes.<lb/> Ganz ausgezeichnet ist die Würdigung von<lb/> Brahms, Cornelius, Pfitzner, und namentlich<lb/> das mhalts- und farbenreiche dritte Buch<lb/> „Die Moderne", worin Strauß, Reger, der<lb/> französische Impressionismus einer ebenso<lb/> sachlichen wie unerschrockenen Kritik unterzogen<lb/> und die Gefahren dargelegt werden, in die bei<lb/> der auf die Spitze getriebenen Raffinierung<lb/> der Ausdrucksmittel die Musik läuft, schließlich<lb/> bei dem Verlust alles Ethos und inneren<lb/> Halts nur mehr Nervenkunst, nicht aber mehr<lb/> Sprache der Seele zu sein. Wir können es nur<lb/> mit Freuden begrüßen, wenn einmal ein Mann<lb/> von durchaus modernem Musikempfinden, nicht<lb/> ein blinder lÄucistor tsmporis seti, unserem<lb/> modernen Musikleben, das mehr und mehr<lb/> der Sensation und Spekulation — der mate¬<lb/> riellen wie intellektuellen — zu verfallen droht,<lb/> den Spiegel vorhält. Das daraus zurück¬<lb/> gestrahlte Bild ist wahrlich nicht erfreulich,<lb/> und der Zerfall der alten Fermente echter<lb/> Kunst erscheint durch die futuristischen Bestre¬<lb/> bungen auch in der Musik das Ziel der Ent¬<lb/> wicklung werden zu wollen. Freilich, hinweg¬<lb/> disputieren lassen sich diese neuen Strömungen<lb/> als Äußerungen modernen Seelenlebens nicht<lb/> mehr, und Niemann ist auch weit von jeder<lb/> reaktionären Gesinnung entfernt, wenn er</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0488]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
sein —, uns umbrandet noch der Parteihader
des Für und Wider die neuen Kräfte, die
namentlich in den letzten zwei Jahrzehnten
protuberanzengleich aus dem Chaos hervor¬
geschossen sind: wer es also unternimmt mit
kritischer Sonde die musikalischen Strömungen
unserer Tage zu untersuchen, kann, meiner
Ansicht nach, von keinem anderen als vor¬
wiegend subjektiven Standpunkt urteilen, wenn
nicht sein Werk eine trockene Nomenklatur
werden oder in Philologischem Detail sich
verlieren soll. Von solcher Art, d, h. sub¬
jektiv, ist Niemanns Buch, aber von einem
Subjektivismus, der nicht aus einem Partei¬
standpunkt geboren, sondern das Ergebnis
erlebter Eindrücke und darum auch fähig ist,
so widersprechend es klingen mag, objektiv zu ur¬
teilen und dem Gegner alle Gerechtigkeit wider¬
fahren zu lassen. In der Vorrede stellt sich
der Verfasser als einen der unerschütterlichen
Starr- und Dickköpfe von Holsteinblut vor,
„die den Mut der Überzeugung als den besten
Teil eines Charakters um keinen Preis dahin-
fahren lassen"; nun, man glaubt es ihm nach
der Lektüre seines Buches aufs Wort und hat
seine herzliche Freude daran, Freude an der
Unerschrockenheit und dem Wahrheitsdrang
eines urgesunden Idealismus und an der
innigen Heimathliebe, die immer wieder
daraus hervorleuchtet und dem Werke eine
so besonders sympathische Note gibt. Es ist
ein echt deutsches Buch. Staunenswert ist
die Fülle des ausgearbeiteten Materials, die
geradezu Phänomenale Kenntnis der Musik¬
literatur, die der Verfasser bekundet, ohne
dabei selbst den Anspruch auf Vollständigkeit
zu erheben. Und gerade wegen der Nennung
so vieler, teilweise sogar bedeutungsloser Kom¬
ponisten fällt die Auslassung zweier markanter
Künstlerindividualitäten wie die Moszkowskis
und des erfindungsreicheren und feineren
Schütt auf, bei den Skandinaviern fehlen
Börresen und Alnaes, bei den Russen
Sapellnikow. Auch für einen Beitrag zur
Beantwortung der von A. Seidel (Kunst und
Kultur, Schuster u. Löffler) aufgeworfenen
Frage „Was dunkel euch um Peter Gast?"
würden wir dankbar gewesen sein.
Indes das läßt sich ja bei einer Neuauf¬
lage alles nachholen. Um nun in einigem
auf das Buch genauer einzugehen, sei zunächst
bemerkt, daß Niemnnn seine Darstellung auf
dem festen Boden der sogenannten kultur¬
geschichtlichen Methode aufbaut. Das ist durch¬
aus zu loben; ohne die feste Grundlage ethno¬
graphischer, klimatischer, wirtschaftlicher und
allgemein kultureller Verhältnisse hängt die
Darstellung jedes seelischen Geschehens, und
das ist alle Geschichte, in der Luft. Ganz so
tief baut er freilich nicht und so neu, wie er
meint, ist ihre Anwendung in der Musik¬
geschichte auch nicht, wie vereinzelte Mono¬
graphien bezeugen, wenn auch jene Faktoren
in Allgemeindarstellungen allerdings bisher
so gut wie gar nicht berücksichtigt worden
sind. Durch die daraus sich von selbst ergebende
Heranziehung der Schwesterkünste gewinnt die
Darstellung an Vertiefung und Perspektive.
Aus den vier Büchern, in die eS zerfällt —
Romantik und Klassizismus; Neuromantik; die
Moderne; Nation, Volk, Stamm — einzelne
an dieser Stelle herausheben zu wollen, würde
zu weit führen, ihre Nennung genügt zur
Orientierung über die Anlage des Werkes.
Ganz ausgezeichnet ist die Würdigung von
Brahms, Cornelius, Pfitzner, und namentlich
das mhalts- und farbenreiche dritte Buch
„Die Moderne", worin Strauß, Reger, der
französische Impressionismus einer ebenso
sachlichen wie unerschrockenen Kritik unterzogen
und die Gefahren dargelegt werden, in die bei
der auf die Spitze getriebenen Raffinierung
der Ausdrucksmittel die Musik läuft, schließlich
bei dem Verlust alles Ethos und inneren
Halts nur mehr Nervenkunst, nicht aber mehr
Sprache der Seele zu sein. Wir können es nur
mit Freuden begrüßen, wenn einmal ein Mann
von durchaus modernem Musikempfinden, nicht
ein blinder lÄucistor tsmporis seti, unserem
modernen Musikleben, das mehr und mehr
der Sensation und Spekulation — der mate¬
riellen wie intellektuellen — zu verfallen droht,
den Spiegel vorhält. Das daraus zurück¬
gestrahlte Bild ist wahrlich nicht erfreulich,
und der Zerfall der alten Fermente echter
Kunst erscheint durch die futuristischen Bestre¬
bungen auch in der Musik das Ziel der Ent¬
wicklung werden zu wollen. Freilich, hinweg¬
disputieren lassen sich diese neuen Strömungen
als Äußerungen modernen Seelenlebens nicht
mehr, und Niemann ist auch weit von jeder
reaktionären Gesinnung entfernt, wenn er
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