Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Affekt steigern. So ging alle Würde, Ein¬
fachheit und Klarheit . . . verloren/' -- Der
"Schwulst" konnte mir durch eine erneute
Rückkehr zum Altertum gebändigt und schlie߬
lich vernichtet werden: Lessings Sprache, in
der nach seinen eigenen Worten "die höchste
Klarheit die höchste Schönheit ne", hat das
Harte, Unerbittliche mit dem Zopfstil gemein,
und die Wiedergeburt der Schönheit am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie
in den Werken Schinkels und Thorwaldsens
in die Erscheinung tritt, könnte mit dem
klassischen Stile Goethes verglichen werden.
Die olympische Ruhe, das Unpersönliche, das
episch Objektive findet man dort wie hier;
der Goethische Stil zeigt etwas von der
kühlen Schönheit des klassischen Profils, da
er ziemlich stark von der Tätigkeit des kriti¬
schen Verstandesbeeinfluszt wird. -- Demgegen¬
über ist der Stil der Romantiker phantasie¬
reich und volkstümlich: das erste zeigt sich in
vielfachen Bildern und Vergleichen, besonders
aus dem Naturleben, das zweite in der
Schlichtheit der Wortwahl und der Einfach¬
heit des Satzbaus: man lese nur einige
Seiten aus Novalis' "Heinrich von Ofter-
dingen"! Auch Innigkeit im Ausdrucke ist
der Romantik nachzurühmen, während der
witzige Stil in ihren Satiren kaum den Weg
Ma Herzen findet; alles in allem: ihr Stil ist
echt deutsch. Genau dieselben Grundzuge be¬
gegnen uns in den Werken der romantischen
Maler und Bildhauer: Deutschtum, Innigkeit,
Phantasie und Schlichtheit sind auch für
Schwind und Rauch charakteristisch. -- Ganz
anders, ja entgegengesetzt ist der Stil des
Jungen Deutschlands, eines Börne und Heine
in ihrer witzigen und pointierter Prosa. In
gewissem Maße herrscht eine Anlehnung an
Lessing: der Ausdruck wird allein vom Ver¬
stände bestimmt, Antithesen und scharfe lo¬
gische Schlußfolgerungen bedingen einen rein
sachlichen Stil. Für die zünftige Wissenschaft,
besonders die wissenschaftliche Kontroverse,
wird in diesem Stile das Rüstzeug geschliffen;
die Ansicht des einzelnen kämpft um ihre
Existenz, Persönlichkeit ist Trumpf. Könnte
wan mit dieser Entwicklungsstufe des sprach¬
lichen Stils nicht die Realisten auf dem Ge¬
biete der Geschichts-, Genre- und Landschafts¬
malerei vergleichen, die sich bemühten, haar¬

[Spaltenumbruch]

scharf das Charakteristische des Einzelwesens
aufzufassen und im Bilde wiederzugeben?
Auch der Stil des Jungen Deutschlands hat
realistische Züge, es herrscht Gegenwartskunst
dort wie hier. -- Und nun schließlich der Stil
von heute in beiden Künsten, der bildenden
und der redenden? In der Literatur herrscht
ein Suchen und Tasten des Stils, der höchste
Grad des Subjektivismus scheint erreicht.
Von der schlichten, volkstümlichen Schreib¬
weise eines Gustav Freytag bis zu dem Ge¬
dankenstrichstil moderner Dichter ist in der
Gegenwart beinahe jede Form vertreten: die
bewußt dunkle, die altertümelnde gewisser
historischer Romane, die der mündlichen
Redeweise aufs engste angenäherte der Humo¬
risten u. v. a. Dem entspricht nur zu genau
das Suchen und Tasten in der bildenden
Kunst: alle Stile der Erde dienen dem Archi¬
tekten als Vorbilder, der bunte Wechsel wirkt
ja belebend aus das Auge; die Plastik kommt
uns bald symbolisch, bald naturalistisch, auch
ihr Einheitsstil ist noch nicht gefunden. Und
gar die Malereil Daß es hier viele, viele
neue Theorien gibt, zeigen ja die Namen auf
-- ihter: Futuristen, Kubisten usw. Jeder sucht
ehrlich, aber das Finden ist schwer. Der neue
Stil soll erst noch geboren werden, gleichzeitig
für die redende wie sür die bildende Kunst.

Professor Dr. w. Mellin
Musik

Die Musik seit Richard Wagner von
Walter Nieman". (Berlin, Schuster u.Löffler.)
Dreißig Jahre sind seit dem Tode des großen
Meisters von Bayreuth, der die dionysische
Kunst zur weltbeherrschenden erhob, verflossen,
eine Zeitspanne, immerhin groß genug, um
dem rückschauenden Blick einen Standpunkt
zu gewähren, der ihm eine Übersicht über die
von der musischen Kunst in dieser Vergangen¬
heit zurückgelegte Entwicklung gestatten wird,
noch nicht groß genug, um für alle künst¬
lerischen Erscheinungen in ihr das Maß einer
unbedingt objektiven Beurteilung zu gewinnen.
Denn die Musik dieser Zeit ist in der Haupt¬
sache Gegenwartsmusik, wir stehen noch mitten
drin in ihrer Entwicklung -- über Richard
Strauß z. B., den großen Wandlungsfähigen,
Wird noch nicht das letzte Wort gesprochen

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Affekt steigern. So ging alle Würde, Ein¬
fachheit und Klarheit . . . verloren/' — Der
„Schwulst" konnte mir durch eine erneute
Rückkehr zum Altertum gebändigt und schlie߬
lich vernichtet werden: Lessings Sprache, in
der nach seinen eigenen Worten „die höchste
Klarheit die höchste Schönheit ne", hat das
Harte, Unerbittliche mit dem Zopfstil gemein,
und die Wiedergeburt der Schönheit am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie
in den Werken Schinkels und Thorwaldsens
in die Erscheinung tritt, könnte mit dem
klassischen Stile Goethes verglichen werden.
Die olympische Ruhe, das Unpersönliche, das
episch Objektive findet man dort wie hier;
der Goethische Stil zeigt etwas von der
kühlen Schönheit des klassischen Profils, da
er ziemlich stark von der Tätigkeit des kriti¬
schen Verstandesbeeinfluszt wird. — Demgegen¬
über ist der Stil der Romantiker phantasie¬
reich und volkstümlich: das erste zeigt sich in
vielfachen Bildern und Vergleichen, besonders
aus dem Naturleben, das zweite in der
Schlichtheit der Wortwahl und der Einfach¬
heit des Satzbaus: man lese nur einige
Seiten aus Novalis' „Heinrich von Ofter-
dingen"! Auch Innigkeit im Ausdrucke ist
der Romantik nachzurühmen, während der
witzige Stil in ihren Satiren kaum den Weg
Ma Herzen findet; alles in allem: ihr Stil ist
echt deutsch. Genau dieselben Grundzuge be¬
gegnen uns in den Werken der romantischen
Maler und Bildhauer: Deutschtum, Innigkeit,
Phantasie und Schlichtheit sind auch für
Schwind und Rauch charakteristisch. — Ganz
anders, ja entgegengesetzt ist der Stil des
Jungen Deutschlands, eines Börne und Heine
in ihrer witzigen und pointierter Prosa. In
gewissem Maße herrscht eine Anlehnung an
Lessing: der Ausdruck wird allein vom Ver¬
stände bestimmt, Antithesen und scharfe lo¬
gische Schlußfolgerungen bedingen einen rein
sachlichen Stil. Für die zünftige Wissenschaft,
besonders die wissenschaftliche Kontroverse,
wird in diesem Stile das Rüstzeug geschliffen;
die Ansicht des einzelnen kämpft um ihre
Existenz, Persönlichkeit ist Trumpf. Könnte
wan mit dieser Entwicklungsstufe des sprach¬
lichen Stils nicht die Realisten auf dem Ge¬
biete der Geschichts-, Genre- und Landschafts¬
malerei vergleichen, die sich bemühten, haar¬

[Spaltenumbruch]

scharf das Charakteristische des Einzelwesens
aufzufassen und im Bilde wiederzugeben?
Auch der Stil des Jungen Deutschlands hat
realistische Züge, es herrscht Gegenwartskunst
dort wie hier. — Und nun schließlich der Stil
von heute in beiden Künsten, der bildenden
und der redenden? In der Literatur herrscht
ein Suchen und Tasten des Stils, der höchste
Grad des Subjektivismus scheint erreicht.
Von der schlichten, volkstümlichen Schreib¬
weise eines Gustav Freytag bis zu dem Ge¬
dankenstrichstil moderner Dichter ist in der
Gegenwart beinahe jede Form vertreten: die
bewußt dunkle, die altertümelnde gewisser
historischer Romane, die der mündlichen
Redeweise aufs engste angenäherte der Humo¬
risten u. v. a. Dem entspricht nur zu genau
das Suchen und Tasten in der bildenden
Kunst: alle Stile der Erde dienen dem Archi¬
tekten als Vorbilder, der bunte Wechsel wirkt
ja belebend aus das Auge; die Plastik kommt
uns bald symbolisch, bald naturalistisch, auch
ihr Einheitsstil ist noch nicht gefunden. Und
gar die Malereil Daß es hier viele, viele
neue Theorien gibt, zeigen ja die Namen auf
— ihter: Futuristen, Kubisten usw. Jeder sucht
ehrlich, aber das Finden ist schwer. Der neue
Stil soll erst noch geboren werden, gleichzeitig
für die redende wie sür die bildende Kunst.

Professor Dr. w. Mellin
Musik

Die Musik seit Richard Wagner von
Walter Nieman». (Berlin, Schuster u.Löffler.)
Dreißig Jahre sind seit dem Tode des großen
Meisters von Bayreuth, der die dionysische
Kunst zur weltbeherrschenden erhob, verflossen,
eine Zeitspanne, immerhin groß genug, um
dem rückschauenden Blick einen Standpunkt
zu gewähren, der ihm eine Übersicht über die
von der musischen Kunst in dieser Vergangen¬
heit zurückgelegte Entwicklung gestatten wird,
noch nicht groß genug, um für alle künst¬
lerischen Erscheinungen in ihr das Maß einer
unbedingt objektiven Beurteilung zu gewinnen.
Denn die Musik dieser Zeit ist in der Haupt¬
sache Gegenwartsmusik, wir stehen noch mitten
drin in ihrer Entwicklung — über Richard
Strauß z. B., den großen Wandlungsfähigen,
Wird noch nicht das letzte Wort gesprochen

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327953"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_2289" prev="#ID_2288" next="#ID_2290"> Affekt steigern. So ging alle Würde, Ein¬<lb/>
fachheit und Klarheit . . . verloren/' &#x2014; Der<lb/>
&#x201E;Schwulst" konnte mir durch eine erneute<lb/>
Rückkehr zum Altertum gebändigt und schlie߬<lb/>
lich vernichtet werden: Lessings Sprache, in<lb/>
der nach seinen eigenen Worten &#x201E;die höchste<lb/>
Klarheit die höchste Schönheit ne", hat das<lb/>
Harte, Unerbittliche mit dem Zopfstil gemein,<lb/>
und die Wiedergeburt der Schönheit am<lb/>
Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie<lb/>
in den Werken Schinkels und Thorwaldsens<lb/>
in die Erscheinung tritt, könnte mit dem<lb/>
klassischen Stile Goethes verglichen werden.<lb/>
Die olympische Ruhe, das Unpersönliche, das<lb/>
episch Objektive findet man dort wie hier;<lb/>
der Goethische Stil zeigt etwas von der<lb/>
kühlen Schönheit des klassischen Profils, da<lb/>
er ziemlich stark von der Tätigkeit des kriti¬<lb/>
schen Verstandesbeeinfluszt wird. &#x2014; Demgegen¬<lb/>
über ist der Stil der Romantiker phantasie¬<lb/>
reich und volkstümlich: das erste zeigt sich in<lb/>
vielfachen Bildern und Vergleichen, besonders<lb/>
aus dem Naturleben, das zweite in der<lb/>
Schlichtheit der Wortwahl und der Einfach¬<lb/>
heit des Satzbaus: man lese nur einige<lb/>
Seiten aus Novalis' &#x201E;Heinrich von Ofter-<lb/>
dingen"! Auch Innigkeit im Ausdrucke ist<lb/>
der Romantik nachzurühmen, während der<lb/>
witzige Stil in ihren Satiren kaum den Weg<lb/>
Ma Herzen findet; alles in allem: ihr Stil ist<lb/>
echt deutsch. Genau dieselben Grundzuge be¬<lb/>
gegnen uns in den Werken der romantischen<lb/>
Maler und Bildhauer: Deutschtum, Innigkeit,<lb/>
Phantasie und Schlichtheit sind auch für<lb/>
Schwind und Rauch charakteristisch. &#x2014; Ganz<lb/>
anders, ja entgegengesetzt ist der Stil des<lb/>
Jungen Deutschlands, eines Börne und Heine<lb/>
in ihrer witzigen und pointierter Prosa. In<lb/>
gewissem Maße herrscht eine Anlehnung an<lb/>
Lessing: der Ausdruck wird allein vom Ver¬<lb/>
stände bestimmt, Antithesen und scharfe lo¬<lb/>
gische Schlußfolgerungen bedingen einen rein<lb/>
sachlichen Stil. Für die zünftige Wissenschaft,<lb/>
besonders die wissenschaftliche Kontroverse,<lb/>
wird in diesem Stile das Rüstzeug geschliffen;<lb/>
die Ansicht des einzelnen kämpft um ihre<lb/>
Existenz, Persönlichkeit ist Trumpf. Könnte<lb/>
wan mit dieser Entwicklungsstufe des sprach¬<lb/>
lichen Stils nicht die Realisten auf dem Ge¬<lb/>
biete der Geschichts-, Genre- und Landschafts¬<lb/>
malerei vergleichen, die sich bemühten, haar¬</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_2290" prev="#ID_2289"> scharf das Charakteristische des Einzelwesens<lb/>
aufzufassen und im Bilde wiederzugeben?<lb/>
Auch der Stil des Jungen Deutschlands hat<lb/>
realistische Züge, es herrscht Gegenwartskunst<lb/>
dort wie hier. &#x2014; Und nun schließlich der Stil<lb/>
von heute in beiden Künsten, der bildenden<lb/>
und der redenden? In der Literatur herrscht<lb/>
ein Suchen und Tasten des Stils, der höchste<lb/>
Grad des Subjektivismus scheint erreicht.<lb/>
Von der schlichten, volkstümlichen Schreib¬<lb/>
weise eines Gustav Freytag bis zu dem Ge¬<lb/>
dankenstrichstil moderner Dichter ist in der<lb/>
Gegenwart beinahe jede Form vertreten: die<lb/>
bewußt dunkle, die altertümelnde gewisser<lb/>
historischer Romane, die der mündlichen<lb/>
Redeweise aufs engste angenäherte der Humo¬<lb/>
risten u. v. a. Dem entspricht nur zu genau<lb/>
das Suchen und Tasten in der bildenden<lb/>
Kunst: alle Stile der Erde dienen dem Archi¬<lb/>
tekten als Vorbilder, der bunte Wechsel wirkt<lb/>
ja belebend aus das Auge; die Plastik kommt<lb/>
uns bald symbolisch, bald naturalistisch, auch<lb/>
ihr Einheitsstil ist noch nicht gefunden. Und<lb/>
gar die Malereil Daß es hier viele, viele<lb/>
neue Theorien gibt, zeigen ja die Namen auf<lb/>
&#x2014; ihter: Futuristen, Kubisten usw. Jeder sucht<lb/>
ehrlich, aber das Finden ist schwer. Der neue<lb/>
Stil soll erst noch geboren werden, gleichzeitig<lb/>
für die redende wie sür die bildende Kunst.</p>
            <note type="byline"> Professor Dr. w. Mellin</note>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Musik</head>
            <p xml:id="ID_2291" next="#ID_2292"> Die Musik seit Richard Wagner von<lb/>
Walter Nieman». (Berlin, Schuster u.Löffler.)<lb/>
Dreißig Jahre sind seit dem Tode des großen<lb/>
Meisters von Bayreuth, der die dionysische<lb/>
Kunst zur weltbeherrschenden erhob, verflossen,<lb/>
eine Zeitspanne, immerhin groß genug, um<lb/>
dem rückschauenden Blick einen Standpunkt<lb/>
zu gewähren, der ihm eine Übersicht über die<lb/>
von der musischen Kunst in dieser Vergangen¬<lb/>
heit zurückgelegte Entwicklung gestatten wird,<lb/>
noch nicht groß genug, um für alle künst¬<lb/>
lerischen Erscheinungen in ihr das Maß einer<lb/>
unbedingt objektiven Beurteilung zu gewinnen.<lb/>
Denn die Musik dieser Zeit ist in der Haupt¬<lb/>
sache Gegenwartsmusik, wir stehen noch mitten<lb/>
drin in ihrer Entwicklung &#x2014; über Richard<lb/>
Strauß z. B., den großen Wandlungsfähigen,<lb/>
Wird noch nicht das letzte Wort gesprochen</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0487] Maßgebliches und Unmaßgebliches Affekt steigern. So ging alle Würde, Ein¬ fachheit und Klarheit . . . verloren/' — Der „Schwulst" konnte mir durch eine erneute Rückkehr zum Altertum gebändigt und schlie߬ lich vernichtet werden: Lessings Sprache, in der nach seinen eigenen Worten „die höchste Klarheit die höchste Schönheit ne", hat das Harte, Unerbittliche mit dem Zopfstil gemein, und die Wiedergeburt der Schönheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie in den Werken Schinkels und Thorwaldsens in die Erscheinung tritt, könnte mit dem klassischen Stile Goethes verglichen werden. Die olympische Ruhe, das Unpersönliche, das episch Objektive findet man dort wie hier; der Goethische Stil zeigt etwas von der kühlen Schönheit des klassischen Profils, da er ziemlich stark von der Tätigkeit des kriti¬ schen Verstandesbeeinfluszt wird. — Demgegen¬ über ist der Stil der Romantiker phantasie¬ reich und volkstümlich: das erste zeigt sich in vielfachen Bildern und Vergleichen, besonders aus dem Naturleben, das zweite in der Schlichtheit der Wortwahl und der Einfach¬ heit des Satzbaus: man lese nur einige Seiten aus Novalis' „Heinrich von Ofter- dingen"! Auch Innigkeit im Ausdrucke ist der Romantik nachzurühmen, während der witzige Stil in ihren Satiren kaum den Weg Ma Herzen findet; alles in allem: ihr Stil ist echt deutsch. Genau dieselben Grundzuge be¬ gegnen uns in den Werken der romantischen Maler und Bildhauer: Deutschtum, Innigkeit, Phantasie und Schlichtheit sind auch für Schwind und Rauch charakteristisch. — Ganz anders, ja entgegengesetzt ist der Stil des Jungen Deutschlands, eines Börne und Heine in ihrer witzigen und pointierter Prosa. In gewissem Maße herrscht eine Anlehnung an Lessing: der Ausdruck wird allein vom Ver¬ stände bestimmt, Antithesen und scharfe lo¬ gische Schlußfolgerungen bedingen einen rein sachlichen Stil. Für die zünftige Wissenschaft, besonders die wissenschaftliche Kontroverse, wird in diesem Stile das Rüstzeug geschliffen; die Ansicht des einzelnen kämpft um ihre Existenz, Persönlichkeit ist Trumpf. Könnte wan mit dieser Entwicklungsstufe des sprach¬ lichen Stils nicht die Realisten auf dem Ge¬ biete der Geschichts-, Genre- und Landschafts¬ malerei vergleichen, die sich bemühten, haar¬ scharf das Charakteristische des Einzelwesens aufzufassen und im Bilde wiederzugeben? Auch der Stil des Jungen Deutschlands hat realistische Züge, es herrscht Gegenwartskunst dort wie hier. — Und nun schließlich der Stil von heute in beiden Künsten, der bildenden und der redenden? In der Literatur herrscht ein Suchen und Tasten des Stils, der höchste Grad des Subjektivismus scheint erreicht. Von der schlichten, volkstümlichen Schreib¬ weise eines Gustav Freytag bis zu dem Ge¬ dankenstrichstil moderner Dichter ist in der Gegenwart beinahe jede Form vertreten: die bewußt dunkle, die altertümelnde gewisser historischer Romane, die der mündlichen Redeweise aufs engste angenäherte der Humo¬ risten u. v. a. Dem entspricht nur zu genau das Suchen und Tasten in der bildenden Kunst: alle Stile der Erde dienen dem Archi¬ tekten als Vorbilder, der bunte Wechsel wirkt ja belebend aus das Auge; die Plastik kommt uns bald symbolisch, bald naturalistisch, auch ihr Einheitsstil ist noch nicht gefunden. Und gar die Malereil Daß es hier viele, viele neue Theorien gibt, zeigen ja die Namen auf — ihter: Futuristen, Kubisten usw. Jeder sucht ehrlich, aber das Finden ist schwer. Der neue Stil soll erst noch geboren werden, gleichzeitig für die redende wie sür die bildende Kunst. Professor Dr. w. Mellin Musik Die Musik seit Richard Wagner von Walter Nieman». (Berlin, Schuster u.Löffler.) Dreißig Jahre sind seit dem Tode des großen Meisters von Bayreuth, der die dionysische Kunst zur weltbeherrschenden erhob, verflossen, eine Zeitspanne, immerhin groß genug, um dem rückschauenden Blick einen Standpunkt zu gewähren, der ihm eine Übersicht über die von der musischen Kunst in dieser Vergangen¬ heit zurückgelegte Entwicklung gestatten wird, noch nicht groß genug, um für alle künst¬ lerischen Erscheinungen in ihr das Maß einer unbedingt objektiven Beurteilung zu gewinnen. Denn die Musik dieser Zeit ist in der Haupt¬ sache Gegenwartsmusik, wir stehen noch mitten drin in ihrer Entwicklung — über Richard Strauß z. B., den großen Wandlungsfähigen, Wird noch nicht das letzte Wort gesprochen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/487
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/487>, abgerufen am 28.12.2024.