Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Hütet (Lues zu träumen und zu dichten! Line Auseinandersetzung mit der Tramndeuterei der Wissenschaft Heinrich Lilienfein von it Recht wird es von allen, die an eine fortschreitende Entwicklung Hütet (Lues zu träumen und zu dichten! Line Auseinandersetzung mit der Tramndeuterei der Wissenschaft Heinrich Lilienfein von it Recht wird es von allen, die an eine fortschreitende Entwicklung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327775"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_327465/figures/grenzboten_341899_327465_327775_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Hütet (Lues zu träumen und zu dichten!<lb/> Line Auseinandersetzung mit der Tramndeuterei der Wissenschaft<lb/><note type="byline"> Heinrich Lilienfein</note> von </head><lb/> <p xml:id="ID_1476" next="#ID_1477"> it Recht wird es von allen, die an eine fortschreitende Entwicklung<lb/> menschlicher Erkenntnis glauben möchten, besonders niederdrückend<lb/> und entmutigend empfunden, daß Halbwahrheiten oder Irrtümer<lb/> der Wissenschaft gerade dann als bedeutende Errungenschaften und<lb/> Entdeckungen populär zu werden pflegen, wenn die zünftige Wissen¬<lb/> schaft ihre Unhaltbarkeit festgestellt oder doch ihren viel zu weitgehenden An¬<lb/> spruch auf ein kleines Maß von tatsächlicher Berechtigung zurückgeführt hat.<lb/> Ein Schulbeispiel solcher Popularisierung bietet die sogenannte Freudsche Theorie.<lb/> Es kann heute als ausgemacht gelten, daß die maßgebenden Vertreter der<lb/> Psychiatrie und Psychologie, meist unter einer höflichen Verbeugung gegen<lb/> Freuds Scharfsinn, seine Lehre in allen wesentlichen Voraussetzungen und<lb/> Folgerungen ablehnen. Um so bezeichnender ist es, daß sie ihre Apostel aus<lb/> der Klinikerstnbe kühn hinaussendet und ihr im Bereich der Pädagogik, der<lb/> kirchlichen Seelsorge, ja neuerdings der Kunst naive Freunde und Nachbeter<lb/> erstehen. Sollte der Zulauf aus Laienkreisen vielleicht doch eine halbwegs be¬<lb/> rechtigte Korrektur an dem Wahrspruch der engeren Fachgenossen darstellen?<lb/> Sollte doch der nicht ganz seltene Fall vorliegen, daß eine wirklich bedeutsame<lb/> Entdeckung sich nur gegen den Willen der Sachverständigen Bahn zu schaffen<lb/> vermag? In demselben Augenblick, wo eine tatsächliche oder vermeintliche Lehre<lb/> der Wissenschaft über den Bezirk ihrer eigentlichen Zuständigkeit hinausgreift,<lb/> wo sie z. B. wie im vorliegenden Fall, über das Wesen des dichterischen<lb/> Schaffens, über die Dichter, über die Aufgaben der Literaturforschung grund¬<lb/> legend neue Aufschlüsse zu geben behauptet, hat auch der Nichtfachmann (der<lb/> Nichtpsychiater) das Recht, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Ja, noch mehr:<lb/> die Probleme, um die es sich hier handelt, und deren Lösung Freud so sehr<lb/> gefördert haben soll, sind von so allgemein menschlichem Interesse, daß jeder<lb/> Gebildete, der selbständig zu denken vermag, zum Urteil mitausgerufen ist. Das<lb/> leider noch viel zu verbreitete wissenschaftliche Pharisäertum, dem von der<lb/> anderen Seite der Köhlerglaube an unfehlbare wissenschaftliche „Tatsachen" nur</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0309]
[Abbildung]
Hütet (Lues zu träumen und zu dichten!
Line Auseinandersetzung mit der Tramndeuterei der Wissenschaft
Heinrich Lilienfein von
it Recht wird es von allen, die an eine fortschreitende Entwicklung
menschlicher Erkenntnis glauben möchten, besonders niederdrückend
und entmutigend empfunden, daß Halbwahrheiten oder Irrtümer
der Wissenschaft gerade dann als bedeutende Errungenschaften und
Entdeckungen populär zu werden pflegen, wenn die zünftige Wissen¬
schaft ihre Unhaltbarkeit festgestellt oder doch ihren viel zu weitgehenden An¬
spruch auf ein kleines Maß von tatsächlicher Berechtigung zurückgeführt hat.
Ein Schulbeispiel solcher Popularisierung bietet die sogenannte Freudsche Theorie.
Es kann heute als ausgemacht gelten, daß die maßgebenden Vertreter der
Psychiatrie und Psychologie, meist unter einer höflichen Verbeugung gegen
Freuds Scharfsinn, seine Lehre in allen wesentlichen Voraussetzungen und
Folgerungen ablehnen. Um so bezeichnender ist es, daß sie ihre Apostel aus
der Klinikerstnbe kühn hinaussendet und ihr im Bereich der Pädagogik, der
kirchlichen Seelsorge, ja neuerdings der Kunst naive Freunde und Nachbeter
erstehen. Sollte der Zulauf aus Laienkreisen vielleicht doch eine halbwegs be¬
rechtigte Korrektur an dem Wahrspruch der engeren Fachgenossen darstellen?
Sollte doch der nicht ganz seltene Fall vorliegen, daß eine wirklich bedeutsame
Entdeckung sich nur gegen den Willen der Sachverständigen Bahn zu schaffen
vermag? In demselben Augenblick, wo eine tatsächliche oder vermeintliche Lehre
der Wissenschaft über den Bezirk ihrer eigentlichen Zuständigkeit hinausgreift,
wo sie z. B. wie im vorliegenden Fall, über das Wesen des dichterischen
Schaffens, über die Dichter, über die Aufgaben der Literaturforschung grund¬
legend neue Aufschlüsse zu geben behauptet, hat auch der Nichtfachmann (der
Nichtpsychiater) das Recht, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Ja, noch mehr:
die Probleme, um die es sich hier handelt, und deren Lösung Freud so sehr
gefördert haben soll, sind von so allgemein menschlichem Interesse, daß jeder
Gebildete, der selbständig zu denken vermag, zum Urteil mitausgerufen ist. Das
leider noch viel zu verbreitete wissenschaftliche Pharisäertum, dem von der
anderen Seite der Köhlerglaube an unfehlbare wissenschaftliche „Tatsachen" nur
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