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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Hexe von Mayen

Wenn sie auch nicht ausdrücklich im Gesetz aufgestellt ist, so haben doch auch
unter der Herrschaft der jetzigen Zivilprozeßordnung die Parteien keineswegs
das Recht zur Prozeßlüge. Ein Bedürfnis, die wahrheitsliebende Partei durch
weitere strafrechtliche Vorschriften als bisher vor der Lüge des Gegners zu
schützen, kann aber nicht anerkannt werden. Der im Prozeß lügenden Partei
besondere Nachteile aufzuerlegen, ist schon deswegen nicht angängig, weil die
vielfach nicht gerade leichte Feststellung, ob eine Partei gelogen hat, einer
raschen Durchführung des Prozesses oft hinderlich sein könnte. Dagegen wird
der Richter die Erfahrung, daß eine Partei mit der Wahrheit nicht gewissenhaft
umgeht, zweifellos verwerten dürfen und müssen, wenn es sich darum handelt,
ob eine Partei, und gegebenenfalls welche, zur Ergänzung des an sich nicht
ausreichenden Beweisergebnisses eidlich zu vernehmen ist.

Was den Gang des Verfahrens anlangt, so hat sich die neue Zivilproze߬
ordnung nur auf das Wesentliche zu beschränken und darauf Bedacht zu nehmen,
daß der Richter nicht durch allzu sehr ins einzelne gehende Formvorschriften
eingeengt wird. Nur so kann er in Anpassung an den Einzelfall die erforder¬
lichen Anordnungen treffen und jeden Rechtsstreit in einer befriedigenden Weise
leiten und durchführen.

(Fortsetzung folgt)




Die Hexe von Mayen
Roman
Lharlottc Niese von
(Vierte Fortsetzung)

In Mayen hatte es auch drei Tage geregnet, und der Winter war noch
einmal wiedergekommen, um den kleinen Blumen und Blüten das Leben zu
verbittern. Dann aber schob sich die Sonne aus dem Gewölk und über der
kleinen Stadt lag eine blaue Atlasglocke.

Sebastian Wiltberg stand vor seinem Mauerloch und betrachtete die Berge,
um die ein Duft lag, wie an schönen Sommertagen. Wahrlich, die Welt begann
schön zu werden, und die heilige Genoveva würde es nicht übel nehmen, wenn
er einmal vom Schreibtisch aufstand und den Duft der kräftigen Luft einatmete.
In der Ferne klang ein dumpfes Grollen. Es kam von der Mosel her, wo
die Franzosen noch immer standen. Die Braunschweiger, unter Herzog Karl
von Lothringen, sollten ihnen entgegenziehen; so wenigstens hatte der kurfürst¬
liche Bote aus Ehrenbreitstein gestern auf dem Markt ausgerufen, um dann


Die Hexe von Mayen

Wenn sie auch nicht ausdrücklich im Gesetz aufgestellt ist, so haben doch auch
unter der Herrschaft der jetzigen Zivilprozeßordnung die Parteien keineswegs
das Recht zur Prozeßlüge. Ein Bedürfnis, die wahrheitsliebende Partei durch
weitere strafrechtliche Vorschriften als bisher vor der Lüge des Gegners zu
schützen, kann aber nicht anerkannt werden. Der im Prozeß lügenden Partei
besondere Nachteile aufzuerlegen, ist schon deswegen nicht angängig, weil die
vielfach nicht gerade leichte Feststellung, ob eine Partei gelogen hat, einer
raschen Durchführung des Prozesses oft hinderlich sein könnte. Dagegen wird
der Richter die Erfahrung, daß eine Partei mit der Wahrheit nicht gewissenhaft
umgeht, zweifellos verwerten dürfen und müssen, wenn es sich darum handelt,
ob eine Partei, und gegebenenfalls welche, zur Ergänzung des an sich nicht
ausreichenden Beweisergebnisses eidlich zu vernehmen ist.

Was den Gang des Verfahrens anlangt, so hat sich die neue Zivilproze߬
ordnung nur auf das Wesentliche zu beschränken und darauf Bedacht zu nehmen,
daß der Richter nicht durch allzu sehr ins einzelne gehende Formvorschriften
eingeengt wird. Nur so kann er in Anpassung an den Einzelfall die erforder¬
lichen Anordnungen treffen und jeden Rechtsstreit in einer befriedigenden Weise
leiten und durchführen.

(Fortsetzung folgt)




Die Hexe von Mayen
Roman
Lharlottc Niese von
(Vierte Fortsetzung)

In Mayen hatte es auch drei Tage geregnet, und der Winter war noch
einmal wiedergekommen, um den kleinen Blumen und Blüten das Leben zu
verbittern. Dann aber schob sich die Sonne aus dem Gewölk und über der
kleinen Stadt lag eine blaue Atlasglocke.

Sebastian Wiltberg stand vor seinem Mauerloch und betrachtete die Berge,
um die ein Duft lag, wie an schönen Sommertagen. Wahrlich, die Welt begann
schön zu werden, und die heilige Genoveva würde es nicht übel nehmen, wenn
er einmal vom Schreibtisch aufstand und den Duft der kräftigen Luft einatmete.
In der Ferne klang ein dumpfes Grollen. Es kam von der Mosel her, wo
die Franzosen noch immer standen. Die Braunschweiger, unter Herzog Karl
von Lothringen, sollten ihnen entgegenziehen; so wenigstens hatte der kurfürst¬
liche Bote aus Ehrenbreitstein gestern auf dem Markt ausgerufen, um dann


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[0232] Die Hexe von Mayen Wenn sie auch nicht ausdrücklich im Gesetz aufgestellt ist, so haben doch auch unter der Herrschaft der jetzigen Zivilprozeßordnung die Parteien keineswegs das Recht zur Prozeßlüge. Ein Bedürfnis, die wahrheitsliebende Partei durch weitere strafrechtliche Vorschriften als bisher vor der Lüge des Gegners zu schützen, kann aber nicht anerkannt werden. Der im Prozeß lügenden Partei besondere Nachteile aufzuerlegen, ist schon deswegen nicht angängig, weil die vielfach nicht gerade leichte Feststellung, ob eine Partei gelogen hat, einer raschen Durchführung des Prozesses oft hinderlich sein könnte. Dagegen wird der Richter die Erfahrung, daß eine Partei mit der Wahrheit nicht gewissenhaft umgeht, zweifellos verwerten dürfen und müssen, wenn es sich darum handelt, ob eine Partei, und gegebenenfalls welche, zur Ergänzung des an sich nicht ausreichenden Beweisergebnisses eidlich zu vernehmen ist. Was den Gang des Verfahrens anlangt, so hat sich die neue Zivilproze߬ ordnung nur auf das Wesentliche zu beschränken und darauf Bedacht zu nehmen, daß der Richter nicht durch allzu sehr ins einzelne gehende Formvorschriften eingeengt wird. Nur so kann er in Anpassung an den Einzelfall die erforder¬ lichen Anordnungen treffen und jeden Rechtsstreit in einer befriedigenden Weise leiten und durchführen. (Fortsetzung folgt) Die Hexe von Mayen Roman Lharlottc Niese von (Vierte Fortsetzung) In Mayen hatte es auch drei Tage geregnet, und der Winter war noch einmal wiedergekommen, um den kleinen Blumen und Blüten das Leben zu verbittern. Dann aber schob sich die Sonne aus dem Gewölk und über der kleinen Stadt lag eine blaue Atlasglocke. Sebastian Wiltberg stand vor seinem Mauerloch und betrachtete die Berge, um die ein Duft lag, wie an schönen Sommertagen. Wahrlich, die Welt begann schön zu werden, und die heilige Genoveva würde es nicht übel nehmen, wenn er einmal vom Schreibtisch aufstand und den Duft der kräftigen Luft einatmete. In der Ferne klang ein dumpfes Grollen. Es kam von der Mosel her, wo die Franzosen noch immer standen. Die Braunschweiger, unter Herzog Karl von Lothringen, sollten ihnen entgegenziehen; so wenigstens hatte der kurfürst¬ liche Bote aus Ehrenbreitstein gestern auf dem Markt ausgerufen, um dann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/232>, abgerufen am 28.12.2024.