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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

den sie oft genug wegen einer Lappalie nicht nur einmal, sondern wiederholt
machen müßten, wäre für sie meist eine erhebliche Belästigung. Für Geschäfts¬
leute insbesondere würden damit vielfach Störungen in ihrem Geschäftsbetriebe,
wenn nicht gar beträchtliche Verluste verknüpft sein. Schikanöse Schuldner
würden dem Gläubiger gar bald die Anrufung des Gerichts zur Durchführung
seiner Ansprüche verbittern und verleiden.

Überhaupt sollte weder das persönliche Erscheinen der Parteien noch deren
Vertretung durch Anwälte im Termin unbedingte Voraussetzung für den Erlaß
einer Entscheidung sein. Vielmehr ist, insoweit im Gegensatz zu den Beschlüssen
des Anwaltstages, auch der Inhalt der vor dem Termin gewechselten Schrift¬
sätze als geeignet anzusehen, der Entscheidung zur Grundlage zu dienen, nicht
nur der mündliche Vortrag der Parteien und ihrer Vertreter. Damit muß
natürlich der ohnehin unzweckmäßige Grundsatz der Mündlichkeit der Ver¬
handlung und der Einheitlichkeit des Verfahrens fallen. Es ist aber nicht ein¬
zusehen, warum einer Partei, die in der Lage ist, sich schriftlich zu verständigen,
nicht das Recht zugestanden werden soll, sich in einem Schriftsatz an das Ge¬
richt zu wenden, wo doch auch sonst im Leben Schriftstücke überall eine Rolle
spielen. Gibt es denn einen zwingenden Grund für die Forderung, daß etwa
ein Anwalt im Westen des Reiches erst einen Substituten ernennt, damit dieser
vor einem im Osten gelegenen Gericht den Inhalt seines dem Gericht bereits
bekannten Schriftsatzes vorträgt oder gar nur auf den Inhalt dieses Schriftsatzes
Bezug nimmt, um ein Versäumnisurteil zu erwirken? Darf ein Schriftsatz, in
dem die Partei sich selbstverständlich ebenso wahrheitsgemäß erklären muß wie
im mündlichen Vortrag, deshalb ignoriert werden, weil er zwar nicht mündlich
vorgetragen, aber doch nun einmal zu den Akten gelangt ist?

Natürlich bleibt es immer die Pflicht des Gerichts, in allen Fällen, in
denen es ihm ratsam erscheint, für die Dauer des Prozesses überhaupt, oder
nur für besonders wichtige Termine, auch für die Beweisaufnahme, die Ver¬
tretung durch Anwälte und nebenher noch das persönliche Erscheinen der Parteien
zu verlangen. In Ergänzung dieser Befugnis müßten dem Gericht auch im
übrigen Mittel zu Gebote stehen, durch die es in die Lage versetzt wird, auf
eine sachgemäße und prompte Durchführung des Prozesses hinzuarbeiten. Ins¬
besondere müßte es der Vertagung des Termins auf Parteivereinbarung hin
entgegentreten, ferner für eine zweckentsprechende Vorbereitung des Verhandlungs¬
termins Sorge tragen können. Der ungehorsamen Partei müßten prozessuale
Nachteile, die das Gericht nach billigem Ermessen eintreten läßt, drohen. Freilich
werden auch in allen diesen Fällen die etwa zu verhängenden Nachteile der
Partei vorher mitzuteilen sein.

Die im Zusammenhang hiermit stehende Frage, ob einer Partei, welche
wissentlich der Wahrheit zuwider Behauptungen aufstellt oder bestreitet, Nach¬
teile daraus erwachsen sollen, hat Gegner wie Anhänger gefunden. Sie muß
aber verneint werden. Die Forderung der Wahrheitspflicht ist nichts Neues.


Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

den sie oft genug wegen einer Lappalie nicht nur einmal, sondern wiederholt
machen müßten, wäre für sie meist eine erhebliche Belästigung. Für Geschäfts¬
leute insbesondere würden damit vielfach Störungen in ihrem Geschäftsbetriebe,
wenn nicht gar beträchtliche Verluste verknüpft sein. Schikanöse Schuldner
würden dem Gläubiger gar bald die Anrufung des Gerichts zur Durchführung
seiner Ansprüche verbittern und verleiden.

Überhaupt sollte weder das persönliche Erscheinen der Parteien noch deren
Vertretung durch Anwälte im Termin unbedingte Voraussetzung für den Erlaß
einer Entscheidung sein. Vielmehr ist, insoweit im Gegensatz zu den Beschlüssen
des Anwaltstages, auch der Inhalt der vor dem Termin gewechselten Schrift¬
sätze als geeignet anzusehen, der Entscheidung zur Grundlage zu dienen, nicht
nur der mündliche Vortrag der Parteien und ihrer Vertreter. Damit muß
natürlich der ohnehin unzweckmäßige Grundsatz der Mündlichkeit der Ver¬
handlung und der Einheitlichkeit des Verfahrens fallen. Es ist aber nicht ein¬
zusehen, warum einer Partei, die in der Lage ist, sich schriftlich zu verständigen,
nicht das Recht zugestanden werden soll, sich in einem Schriftsatz an das Ge¬
richt zu wenden, wo doch auch sonst im Leben Schriftstücke überall eine Rolle
spielen. Gibt es denn einen zwingenden Grund für die Forderung, daß etwa
ein Anwalt im Westen des Reiches erst einen Substituten ernennt, damit dieser
vor einem im Osten gelegenen Gericht den Inhalt seines dem Gericht bereits
bekannten Schriftsatzes vorträgt oder gar nur auf den Inhalt dieses Schriftsatzes
Bezug nimmt, um ein Versäumnisurteil zu erwirken? Darf ein Schriftsatz, in
dem die Partei sich selbstverständlich ebenso wahrheitsgemäß erklären muß wie
im mündlichen Vortrag, deshalb ignoriert werden, weil er zwar nicht mündlich
vorgetragen, aber doch nun einmal zu den Akten gelangt ist?

Natürlich bleibt es immer die Pflicht des Gerichts, in allen Fällen, in
denen es ihm ratsam erscheint, für die Dauer des Prozesses überhaupt, oder
nur für besonders wichtige Termine, auch für die Beweisaufnahme, die Ver¬
tretung durch Anwälte und nebenher noch das persönliche Erscheinen der Parteien
zu verlangen. In Ergänzung dieser Befugnis müßten dem Gericht auch im
übrigen Mittel zu Gebote stehen, durch die es in die Lage versetzt wird, auf
eine sachgemäße und prompte Durchführung des Prozesses hinzuarbeiten. Ins¬
besondere müßte es der Vertagung des Termins auf Parteivereinbarung hin
entgegentreten, ferner für eine zweckentsprechende Vorbereitung des Verhandlungs¬
termins Sorge tragen können. Der ungehorsamen Partei müßten prozessuale
Nachteile, die das Gericht nach billigem Ermessen eintreten läßt, drohen. Freilich
werden auch in allen diesen Fällen die etwa zu verhängenden Nachteile der
Partei vorher mitzuteilen sein.

Die im Zusammenhang hiermit stehende Frage, ob einer Partei, welche
wissentlich der Wahrheit zuwider Behauptungen aufstellt oder bestreitet, Nach¬
teile daraus erwachsen sollen, hat Gegner wie Anhänger gefunden. Sie muß
aber verneint werden. Die Forderung der Wahrheitspflicht ist nichts Neues.


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[0231] Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses den sie oft genug wegen einer Lappalie nicht nur einmal, sondern wiederholt machen müßten, wäre für sie meist eine erhebliche Belästigung. Für Geschäfts¬ leute insbesondere würden damit vielfach Störungen in ihrem Geschäftsbetriebe, wenn nicht gar beträchtliche Verluste verknüpft sein. Schikanöse Schuldner würden dem Gläubiger gar bald die Anrufung des Gerichts zur Durchführung seiner Ansprüche verbittern und verleiden. Überhaupt sollte weder das persönliche Erscheinen der Parteien noch deren Vertretung durch Anwälte im Termin unbedingte Voraussetzung für den Erlaß einer Entscheidung sein. Vielmehr ist, insoweit im Gegensatz zu den Beschlüssen des Anwaltstages, auch der Inhalt der vor dem Termin gewechselten Schrift¬ sätze als geeignet anzusehen, der Entscheidung zur Grundlage zu dienen, nicht nur der mündliche Vortrag der Parteien und ihrer Vertreter. Damit muß natürlich der ohnehin unzweckmäßige Grundsatz der Mündlichkeit der Ver¬ handlung und der Einheitlichkeit des Verfahrens fallen. Es ist aber nicht ein¬ zusehen, warum einer Partei, die in der Lage ist, sich schriftlich zu verständigen, nicht das Recht zugestanden werden soll, sich in einem Schriftsatz an das Ge¬ richt zu wenden, wo doch auch sonst im Leben Schriftstücke überall eine Rolle spielen. Gibt es denn einen zwingenden Grund für die Forderung, daß etwa ein Anwalt im Westen des Reiches erst einen Substituten ernennt, damit dieser vor einem im Osten gelegenen Gericht den Inhalt seines dem Gericht bereits bekannten Schriftsatzes vorträgt oder gar nur auf den Inhalt dieses Schriftsatzes Bezug nimmt, um ein Versäumnisurteil zu erwirken? Darf ein Schriftsatz, in dem die Partei sich selbstverständlich ebenso wahrheitsgemäß erklären muß wie im mündlichen Vortrag, deshalb ignoriert werden, weil er zwar nicht mündlich vorgetragen, aber doch nun einmal zu den Akten gelangt ist? Natürlich bleibt es immer die Pflicht des Gerichts, in allen Fällen, in denen es ihm ratsam erscheint, für die Dauer des Prozesses überhaupt, oder nur für besonders wichtige Termine, auch für die Beweisaufnahme, die Ver¬ tretung durch Anwälte und nebenher noch das persönliche Erscheinen der Parteien zu verlangen. In Ergänzung dieser Befugnis müßten dem Gericht auch im übrigen Mittel zu Gebote stehen, durch die es in die Lage versetzt wird, auf eine sachgemäße und prompte Durchführung des Prozesses hinzuarbeiten. Ins¬ besondere müßte es der Vertagung des Termins auf Parteivereinbarung hin entgegentreten, ferner für eine zweckentsprechende Vorbereitung des Verhandlungs¬ termins Sorge tragen können. Der ungehorsamen Partei müßten prozessuale Nachteile, die das Gericht nach billigem Ermessen eintreten läßt, drohen. Freilich werden auch in allen diesen Fällen die etwa zu verhängenden Nachteile der Partei vorher mitzuteilen sein. Die im Zusammenhang hiermit stehende Frage, ob einer Partei, welche wissentlich der Wahrheit zuwider Behauptungen aufstellt oder bestreitet, Nach¬ teile daraus erwachsen sollen, hat Gegner wie Anhänger gefunden. Sie muß aber verneint werden. Die Forderung der Wahrheitspflicht ist nichts Neues.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/231>, abgerufen am 29.12.2024.