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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Vom Berliner Theatermarkt
Dr. Arthur Westphal von

as Bild der Berliner Theatersituation, das sich mit Beginn der
laufenden Saison beträchtlich verschoben hatte, läßt sich jetzt, bald
nach Neujahrs Anfang, zum ersten Male in seinen veränderten Richt¬
linien annähernd bestimmen und umreißen: die ersten vier Monate
angestrengter Arbeit sind vorüber. Das große Wettrennen, das
im September einsetzte, ist ein klein wenig abgeflaut. Die neuen Männer, die
damals, wie der Schillersche Jüngling, mit tausend Masten in den Ozean
geschifft sind, haben ihre Probezeit hinter sich und präsentieren sich der Umwelt
mit mehr oder weniger gesunden Gliedmaßen. Aus unsicherem Nebel schälen
sich allmählich fest umrissene Gesichter. Zertretene Hoffnungen lagern dicht neben
noch heute hochbeschwingten Wünschen. Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne
Billigkeit das Glück. Ausverkaufte Häuser und beglückte Kassierergesichter auf
der einen, betrübte Lohgerbermienen und die unheimlich schallende Stimme des
Gerichtsvollziehers auf der anderen Seite.

Eigentlich ist es noch immer so gewesen. Das rätselhafte Börsenspiel um
den Theatererfolg hat noch jedesmal zu anderen Resultaten geführt, als die
Mitspielenden errechnet zu haben meinten. Sie glauben zu schieben, und in
Wahrheit werden sie geschoben; geschoben von der Gunst des Publikums, von
der Presse, von den Geheimnissen des "glücklichen Wurfs", von einer Kon¬
junktur, die in der Luft hängt und doch niemals mit Händen zu greifen ist,
von geschickt postierten Schauspielerleistungen, vom Wetter, von einer über Nacht
auferstandenen Aktualität -- kurz und gut, von tausend und abertausend Zu¬
fälligkeiten, die, solange es ein Theater gibt, noch niemand vom grünen Tisch
aus zu übersehen und zu lenken gelernt hat. Der Fluch des kapitalistischen
Unternehmertums lastet schwer auf dem zeitgenössischen Berliner Theater. Der
nicht mehr aufzuhaltende Siegeslauf jener Bühnen, die, wie die vereinigten
Volksbühnen oder die Schillertheater, auf fester genossenschaftlicher Grundlage
bzw. auf der soliden Basis eines Abonnentenkreises ruhen, redet in diesem Zu¬
sammenhang eine mehr als laute Sprache und führt die ins Blaue hinein
unternommenen va-banque-Spekulationen unserer Geschäftstheater immer wieder
sa ad8urctum.




Vom Berliner Theatermarkt
Dr. Arthur Westphal von

as Bild der Berliner Theatersituation, das sich mit Beginn der
laufenden Saison beträchtlich verschoben hatte, läßt sich jetzt, bald
nach Neujahrs Anfang, zum ersten Male in seinen veränderten Richt¬
linien annähernd bestimmen und umreißen: die ersten vier Monate
angestrengter Arbeit sind vorüber. Das große Wettrennen, das
im September einsetzte, ist ein klein wenig abgeflaut. Die neuen Männer, die
damals, wie der Schillersche Jüngling, mit tausend Masten in den Ozean
geschifft sind, haben ihre Probezeit hinter sich und präsentieren sich der Umwelt
mit mehr oder weniger gesunden Gliedmaßen. Aus unsicherem Nebel schälen
sich allmählich fest umrissene Gesichter. Zertretene Hoffnungen lagern dicht neben
noch heute hochbeschwingten Wünschen. Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne
Billigkeit das Glück. Ausverkaufte Häuser und beglückte Kassierergesichter auf
der einen, betrübte Lohgerbermienen und die unheimlich schallende Stimme des
Gerichtsvollziehers auf der anderen Seite.

Eigentlich ist es noch immer so gewesen. Das rätselhafte Börsenspiel um
den Theatererfolg hat noch jedesmal zu anderen Resultaten geführt, als die
Mitspielenden errechnet zu haben meinten. Sie glauben zu schieben, und in
Wahrheit werden sie geschoben; geschoben von der Gunst des Publikums, von
der Presse, von den Geheimnissen des „glücklichen Wurfs", von einer Kon¬
junktur, die in der Luft hängt und doch niemals mit Händen zu greifen ist,
von geschickt postierten Schauspielerleistungen, vom Wetter, von einer über Nacht
auferstandenen Aktualität — kurz und gut, von tausend und abertausend Zu¬
fälligkeiten, die, solange es ein Theater gibt, noch niemand vom grünen Tisch
aus zu übersehen und zu lenken gelernt hat. Der Fluch des kapitalistischen
Unternehmertums lastet schwer auf dem zeitgenössischen Berliner Theater. Der
nicht mehr aufzuhaltende Siegeslauf jener Bühnen, die, wie die vereinigten
Volksbühnen oder die Schillertheater, auf fester genossenschaftlicher Grundlage
bzw. auf der soliden Basis eines Abonnentenkreises ruhen, redet in diesem Zu¬
sammenhang eine mehr als laute Sprache und führt die ins Blaue hinein
unternommenen va-banque-Spekulationen unserer Geschäftstheater immer wieder
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[0188] [Abbildung] Vom Berliner Theatermarkt Dr. Arthur Westphal von as Bild der Berliner Theatersituation, das sich mit Beginn der laufenden Saison beträchtlich verschoben hatte, läßt sich jetzt, bald nach Neujahrs Anfang, zum ersten Male in seinen veränderten Richt¬ linien annähernd bestimmen und umreißen: die ersten vier Monate angestrengter Arbeit sind vorüber. Das große Wettrennen, das im September einsetzte, ist ein klein wenig abgeflaut. Die neuen Männer, die damals, wie der Schillersche Jüngling, mit tausend Masten in den Ozean geschifft sind, haben ihre Probezeit hinter sich und präsentieren sich der Umwelt mit mehr oder weniger gesunden Gliedmaßen. Aus unsicherem Nebel schälen sich allmählich fest umrissene Gesichter. Zertretene Hoffnungen lagern dicht neben noch heute hochbeschwingten Wünschen. Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit das Glück. Ausverkaufte Häuser und beglückte Kassierergesichter auf der einen, betrübte Lohgerbermienen und die unheimlich schallende Stimme des Gerichtsvollziehers auf der anderen Seite. Eigentlich ist es noch immer so gewesen. Das rätselhafte Börsenspiel um den Theatererfolg hat noch jedesmal zu anderen Resultaten geführt, als die Mitspielenden errechnet zu haben meinten. Sie glauben zu schieben, und in Wahrheit werden sie geschoben; geschoben von der Gunst des Publikums, von der Presse, von den Geheimnissen des „glücklichen Wurfs", von einer Kon¬ junktur, die in der Luft hängt und doch niemals mit Händen zu greifen ist, von geschickt postierten Schauspielerleistungen, vom Wetter, von einer über Nacht auferstandenen Aktualität — kurz und gut, von tausend und abertausend Zu¬ fälligkeiten, die, solange es ein Theater gibt, noch niemand vom grünen Tisch aus zu übersehen und zu lenken gelernt hat. Der Fluch des kapitalistischen Unternehmertums lastet schwer auf dem zeitgenössischen Berliner Theater. Der nicht mehr aufzuhaltende Siegeslauf jener Bühnen, die, wie die vereinigten Volksbühnen oder die Schillertheater, auf fester genossenschaftlicher Grundlage bzw. auf der soliden Basis eines Abonnentenkreises ruhen, redet in diesem Zu¬ sammenhang eine mehr als laute Sprache und führt die ins Blaue hinein unternommenen va-banque-Spekulationen unserer Geschäftstheater immer wieder sa ad8urctum.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/188>, abgerufen am 28.12.2024.