Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Natur des Denkens

Scheu lauschte er um sich. Hinten aus der Küche drang die gedämpfte
Stimme des alten Frey, der mit seiner Schwester verhandelte. Auf Zehenspitzen
schlich der Verwalter zur Tür und verschwand wie ein Schatten im dunklen
Treppenhaus.

Unten auf der Straße nahm ihn jetzt der Strom der Menschen auf, die sich
von dem Platz aus in die Stadt zerstreuten.

"Der Kriegszustand wird erklärt!" hieß es unter der Menge. "Die
Kosaken sind da. Na -- mögen sie! Wir wollen sehen, wer der Stärkere ist.
Auf das bischen Leben kommt es nicht an."

Aber Verwalter Kirsch dachte anders. Sein Dasein schien ihm noch
durchaus lebenswert. Am Fuß des Torwegs angelangt, trennte er sich von
dein Schwarm und hastete, am Turm der dicken Margarete vorbei, dem Hafen zu.

Aus den vergitterten Fenstern der klafterdicken Mauern hörte er Rufe:
"Befreit man uns bald? Ist die Republik erklärt?"

Es bedürfte nicht der Aufmerksamkeit des Postens, um Kirsch am Ant¬
worten zu verhindern. Stumm schlich er vorüber.

Im Hafen schaukelten die Schiffe, Ankerketten rasselten, Taue knirschten.
Es roch nach geleerten: Segeltuch und nach Fischen.

"Was machst du hier, Roter?" fragte eine gutmütige Stimme. Gottlob,
es war der Barkenführer, den er suchte. Kirsch packte ihn am Arm wie seinen
Retter---

(Fortsetzung folgt)




Die Natur des Denkens
Dr. Richard Müller-Freienfels vonin

"l cum jemand bis vor kurzem ein Lehrbuch der Psychologie zur
Hand nahm, um darin über die Natur des Denkens nachzulesen,
so hat er es gewiß bald enttäuscht beiseite gestellt. Denn so
^ unglaublich es den Laien anmuten mag, vom "Denken" wurde in
der Psychologie kaum gesprochen. Es war da die Rede vom
Empfinden, vom Fühlen, vom Vorstellen und vom Wollen, aber eine besondere
Funktion des Denkens wurde nicht anerkannt von den meisten Psychologen.
Es ging das vor allem auf Locke und Hume zurück, die bekanntlich alles
höhere Seelenleben auf die äußeren Empfindungen und ihre schwächeren,
inneren Nachbilder, die Vorstellungen, zurückführen wollten. Und hierin sind
die meisten neueren Psychologen auf dem Standpunkt jener stehen geblieben,


Die Natur des Denkens

Scheu lauschte er um sich. Hinten aus der Küche drang die gedämpfte
Stimme des alten Frey, der mit seiner Schwester verhandelte. Auf Zehenspitzen
schlich der Verwalter zur Tür und verschwand wie ein Schatten im dunklen
Treppenhaus.

Unten auf der Straße nahm ihn jetzt der Strom der Menschen auf, die sich
von dem Platz aus in die Stadt zerstreuten.

„Der Kriegszustand wird erklärt!" hieß es unter der Menge. „Die
Kosaken sind da. Na — mögen sie! Wir wollen sehen, wer der Stärkere ist.
Auf das bischen Leben kommt es nicht an."

Aber Verwalter Kirsch dachte anders. Sein Dasein schien ihm noch
durchaus lebenswert. Am Fuß des Torwegs angelangt, trennte er sich von
dein Schwarm und hastete, am Turm der dicken Margarete vorbei, dem Hafen zu.

Aus den vergitterten Fenstern der klafterdicken Mauern hörte er Rufe:
„Befreit man uns bald? Ist die Republik erklärt?"

Es bedürfte nicht der Aufmerksamkeit des Postens, um Kirsch am Ant¬
worten zu verhindern. Stumm schlich er vorüber.

Im Hafen schaukelten die Schiffe, Ankerketten rasselten, Taue knirschten.
Es roch nach geleerten: Segeltuch und nach Fischen.

„Was machst du hier, Roter?" fragte eine gutmütige Stimme. Gottlob,
es war der Barkenführer, den er suchte. Kirsch packte ihn am Arm wie seinen
Retter---

(Fortsetzung folgt)




Die Natur des Denkens
Dr. Richard Müller-Freienfels vonin

«l cum jemand bis vor kurzem ein Lehrbuch der Psychologie zur
Hand nahm, um darin über die Natur des Denkens nachzulesen,
so hat er es gewiß bald enttäuscht beiseite gestellt. Denn so
^ unglaublich es den Laien anmuten mag, vom „Denken" wurde in
der Psychologie kaum gesprochen. Es war da die Rede vom
Empfinden, vom Fühlen, vom Vorstellen und vom Wollen, aber eine besondere
Funktion des Denkens wurde nicht anerkannt von den meisten Psychologen.
Es ging das vor allem auf Locke und Hume zurück, die bekanntlich alles
höhere Seelenleben auf die äußeren Empfindungen und ihre schwächeren,
inneren Nachbilder, die Vorstellungen, zurückführen wollten. Und hierin sind
die meisten neueren Psychologen auf dem Standpunkt jener stehen geblieben,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0627" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326147"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Natur des Denkens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3020"> Scheu lauschte er um sich. Hinten aus der Küche drang die gedämpfte<lb/>
Stimme des alten Frey, der mit seiner Schwester verhandelte. Auf Zehenspitzen<lb/>
schlich der Verwalter zur Tür und verschwand wie ein Schatten im dunklen<lb/>
Treppenhaus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3021"> Unten auf der Straße nahm ihn jetzt der Strom der Menschen auf, die sich<lb/>
von dem Platz aus in die Stadt zerstreuten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3022"> &#x201E;Der Kriegszustand wird erklärt!" hieß es unter der Menge. &#x201E;Die<lb/>
Kosaken sind da. Na &#x2014; mögen sie! Wir wollen sehen, wer der Stärkere ist.<lb/>
Auf das bischen Leben kommt es nicht an."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3023"> Aber Verwalter Kirsch dachte anders. Sein Dasein schien ihm noch<lb/>
durchaus lebenswert. Am Fuß des Torwegs angelangt, trennte er sich von<lb/>
dein Schwarm und hastete, am Turm der dicken Margarete vorbei, dem Hafen zu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3024"> Aus den vergitterten Fenstern der klafterdicken Mauern hörte er Rufe:<lb/>
&#x201E;Befreit man uns bald? Ist die Republik erklärt?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3025"> Es bedürfte nicht der Aufmerksamkeit des Postens, um Kirsch am Ant¬<lb/>
worten zu verhindern.  Stumm schlich er vorüber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3026"> Im Hafen schaukelten die Schiffe, Ankerketten rasselten, Taue knirschten.<lb/>
Es roch nach geleerten: Segeltuch und nach Fischen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3027"> &#x201E;Was machst du hier, Roter?" fragte eine gutmütige Stimme. Gottlob,<lb/>
es war der Barkenführer, den er suchte. Kirsch packte ihn am Arm wie seinen<lb/>
Retter---</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3028"> (Fortsetzung folgt)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Natur des Denkens<lb/><note type="byline"> Dr. Richard Müller-Freienfels </note> vonin </head><lb/>
          <p xml:id="ID_3029" next="#ID_3030"> «l cum jemand bis vor kurzem ein Lehrbuch der Psychologie zur<lb/>
Hand nahm, um darin über die Natur des Denkens nachzulesen,<lb/>
so hat er es gewiß bald enttäuscht beiseite gestellt. Denn so<lb/>
^ unglaublich es den Laien anmuten mag, vom &#x201E;Denken" wurde in<lb/>
der Psychologie kaum gesprochen. Es war da die Rede vom<lb/>
Empfinden, vom Fühlen, vom Vorstellen und vom Wollen, aber eine besondere<lb/>
Funktion des Denkens wurde nicht anerkannt von den meisten Psychologen.<lb/>
Es ging das vor allem auf Locke und Hume zurück, die bekanntlich alles<lb/>
höhere Seelenleben auf die äußeren Empfindungen und ihre schwächeren,<lb/>
inneren Nachbilder, die Vorstellungen, zurückführen wollten. Und hierin sind<lb/>
die meisten neueren Psychologen auf dem Standpunkt jener stehen geblieben,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0627] Die Natur des Denkens Scheu lauschte er um sich. Hinten aus der Küche drang die gedämpfte Stimme des alten Frey, der mit seiner Schwester verhandelte. Auf Zehenspitzen schlich der Verwalter zur Tür und verschwand wie ein Schatten im dunklen Treppenhaus. Unten auf der Straße nahm ihn jetzt der Strom der Menschen auf, die sich von dem Platz aus in die Stadt zerstreuten. „Der Kriegszustand wird erklärt!" hieß es unter der Menge. „Die Kosaken sind da. Na — mögen sie! Wir wollen sehen, wer der Stärkere ist. Auf das bischen Leben kommt es nicht an." Aber Verwalter Kirsch dachte anders. Sein Dasein schien ihm noch durchaus lebenswert. Am Fuß des Torwegs angelangt, trennte er sich von dein Schwarm und hastete, am Turm der dicken Margarete vorbei, dem Hafen zu. Aus den vergitterten Fenstern der klafterdicken Mauern hörte er Rufe: „Befreit man uns bald? Ist die Republik erklärt?" Es bedürfte nicht der Aufmerksamkeit des Postens, um Kirsch am Ant¬ worten zu verhindern. Stumm schlich er vorüber. Im Hafen schaukelten die Schiffe, Ankerketten rasselten, Taue knirschten. Es roch nach geleerten: Segeltuch und nach Fischen. „Was machst du hier, Roter?" fragte eine gutmütige Stimme. Gottlob, es war der Barkenführer, den er suchte. Kirsch packte ihn am Arm wie seinen Retter--- (Fortsetzung folgt) Die Natur des Denkens Dr. Richard Müller-Freienfels vonin «l cum jemand bis vor kurzem ein Lehrbuch der Psychologie zur Hand nahm, um darin über die Natur des Denkens nachzulesen, so hat er es gewiß bald enttäuscht beiseite gestellt. Denn so ^ unglaublich es den Laien anmuten mag, vom „Denken" wurde in der Psychologie kaum gesprochen. Es war da die Rede vom Empfinden, vom Fühlen, vom Vorstellen und vom Wollen, aber eine besondere Funktion des Denkens wurde nicht anerkannt von den meisten Psychologen. Es ging das vor allem auf Locke und Hume zurück, die bekanntlich alles höhere Seelenleben auf die äußeren Empfindungen und ihre schwächeren, inneren Nachbilder, die Vorstellungen, zurückführen wollten. Und hierin sind die meisten neueren Psychologen auf dem Standpunkt jener stehen geblieben,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/627
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/627>, abgerufen am 21.12.2024.