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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Giovanni Boccaccio

einwandfreie Lösung aller Schwierigkeiten das absolute Verbot des Kinderbesuches
für alle Vorstellungen wäre, die nicht besonders als Kindervorstellungen ge¬
kennzeichnet sind. Aber freilich, dazu wird man sich nicht entschließen. Denn
das wäre ja gegen die armen Kinobesitzer zu grausam. Sie würden vielleicht
nicht mehr ganz so rasch reich werden wie bisher. Und das Wohl unserer
Kinder darf uns natürlich nicht so am Herzen liegen wie das Gedeihen des
Kinokapitals, das sich ja sonst gar nicht mehr zu helfen wüßte und das doch
-- soweit es nicht dem Ausland gehört -- für den Staat so wertvoll ist,
weil es so hohe Steuern abwirft. Erlauben wir also unseren Kindern ruhig
weiter, sich die Augen zu verderben, abends über die Schlafenszeit hinaus in
dunkeln schlecht gelüfteten Lokalen zu fitzen und sich durch die gepfefferte Un-
kunst der Films den Sinn für wahre Kunst gründlich zu verderben. Dann
wird die kommende Generation wohl noch um einen Grad stumpfsinniger werden
als die heutige Jugend, die den Futurismus sür Kunst hält und den Kino
dem Theater vorzieht.




Giovanni Boccaccio
Dr. Hubert Rausse vonin

Wir begehen in diesem Jahre Boccaccios sechshundertsten Geburtstag.
Das genaue Datum ist unbekannt. Vielfach wird der 16. Juni als
Geburtstag angenommen.

s ist ein charakteristischer Zug des Mittelalters, daß es in seiner
gesamten Kunst in einem viel geringeren Grade wie wir jetzt auf
die Suche nach neuem ging. Das gilt für die bildende Kunst
so gut wie für die Dichtkunst. Wie lange hat die Malerei die
stets gleichen antiken und religiösen Motive verarbeitet! Wie eng
-- in die Breite gemessen -- ist der Stoffkreis noch unserer ganzen ersten Blüte¬
periode I Und wie überraschend wirkt deshalb etwa der Meyer Helmbrecht mit
seinem für die damalige Zeit ganz eigenartigen Stoff.

Das Volk des Mittelalters war nicht sensationslüstern, vielleicht neugierig,
was schon den engeren Nahmen beweist. Denn die Neugier ist ein Fehler, der
räumlich wie zeitlich seine Grenzen hat, die Sensationslust aber ein Laster, das
alle Gebiete an sich reißt und keins verschont. Wir haben dieses neu hinzu¬
bekommen, ohne jenen verloren zu haben.


Giovanni Boccaccio

einwandfreie Lösung aller Schwierigkeiten das absolute Verbot des Kinderbesuches
für alle Vorstellungen wäre, die nicht besonders als Kindervorstellungen ge¬
kennzeichnet sind. Aber freilich, dazu wird man sich nicht entschließen. Denn
das wäre ja gegen die armen Kinobesitzer zu grausam. Sie würden vielleicht
nicht mehr ganz so rasch reich werden wie bisher. Und das Wohl unserer
Kinder darf uns natürlich nicht so am Herzen liegen wie das Gedeihen des
Kinokapitals, das sich ja sonst gar nicht mehr zu helfen wüßte und das doch
— soweit es nicht dem Ausland gehört — für den Staat so wertvoll ist,
weil es so hohe Steuern abwirft. Erlauben wir also unseren Kindern ruhig
weiter, sich die Augen zu verderben, abends über die Schlafenszeit hinaus in
dunkeln schlecht gelüfteten Lokalen zu fitzen und sich durch die gepfefferte Un-
kunst der Films den Sinn für wahre Kunst gründlich zu verderben. Dann
wird die kommende Generation wohl noch um einen Grad stumpfsinniger werden
als die heutige Jugend, die den Futurismus sür Kunst hält und den Kino
dem Theater vorzieht.




Giovanni Boccaccio
Dr. Hubert Rausse vonin

Wir begehen in diesem Jahre Boccaccios sechshundertsten Geburtstag.
Das genaue Datum ist unbekannt. Vielfach wird der 16. Juni als
Geburtstag angenommen.

s ist ein charakteristischer Zug des Mittelalters, daß es in seiner
gesamten Kunst in einem viel geringeren Grade wie wir jetzt auf
die Suche nach neuem ging. Das gilt für die bildende Kunst
so gut wie für die Dichtkunst. Wie lange hat die Malerei die
stets gleichen antiken und religiösen Motive verarbeitet! Wie eng
— in die Breite gemessen — ist der Stoffkreis noch unserer ganzen ersten Blüte¬
periode I Und wie überraschend wirkt deshalb etwa der Meyer Helmbrecht mit
seinem für die damalige Zeit ganz eigenartigen Stoff.

Das Volk des Mittelalters war nicht sensationslüstern, vielleicht neugierig,
was schon den engeren Nahmen beweist. Denn die Neugier ist ein Fehler, der
räumlich wie zeitlich seine Grenzen hat, die Sensationslust aber ein Laster, das
alle Gebiete an sich reißt und keins verschont. Wir haben dieses neu hinzu¬
bekommen, ohne jenen verloren zu haben.


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[0530] Giovanni Boccaccio einwandfreie Lösung aller Schwierigkeiten das absolute Verbot des Kinderbesuches für alle Vorstellungen wäre, die nicht besonders als Kindervorstellungen ge¬ kennzeichnet sind. Aber freilich, dazu wird man sich nicht entschließen. Denn das wäre ja gegen die armen Kinobesitzer zu grausam. Sie würden vielleicht nicht mehr ganz so rasch reich werden wie bisher. Und das Wohl unserer Kinder darf uns natürlich nicht so am Herzen liegen wie das Gedeihen des Kinokapitals, das sich ja sonst gar nicht mehr zu helfen wüßte und das doch — soweit es nicht dem Ausland gehört — für den Staat so wertvoll ist, weil es so hohe Steuern abwirft. Erlauben wir also unseren Kindern ruhig weiter, sich die Augen zu verderben, abends über die Schlafenszeit hinaus in dunkeln schlecht gelüfteten Lokalen zu fitzen und sich durch die gepfefferte Un- kunst der Films den Sinn für wahre Kunst gründlich zu verderben. Dann wird die kommende Generation wohl noch um einen Grad stumpfsinniger werden als die heutige Jugend, die den Futurismus sür Kunst hält und den Kino dem Theater vorzieht. Giovanni Boccaccio Dr. Hubert Rausse vonin Wir begehen in diesem Jahre Boccaccios sechshundertsten Geburtstag. Das genaue Datum ist unbekannt. Vielfach wird der 16. Juni als Geburtstag angenommen. s ist ein charakteristischer Zug des Mittelalters, daß es in seiner gesamten Kunst in einem viel geringeren Grade wie wir jetzt auf die Suche nach neuem ging. Das gilt für die bildende Kunst so gut wie für die Dichtkunst. Wie lange hat die Malerei die stets gleichen antiken und religiösen Motive verarbeitet! Wie eng — in die Breite gemessen — ist der Stoffkreis noch unserer ganzen ersten Blüte¬ periode I Und wie überraschend wirkt deshalb etwa der Meyer Helmbrecht mit seinem für die damalige Zeit ganz eigenartigen Stoff. Das Volk des Mittelalters war nicht sensationslüstern, vielleicht neugierig, was schon den engeren Nahmen beweist. Denn die Neugier ist ein Fehler, der räumlich wie zeitlich seine Grenzen hat, die Sensationslust aber ein Laster, das alle Gebiete an sich reißt und keins verschont. Wir haben dieses neu hinzu¬ bekommen, ohne jenen verloren zu haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/530>, abgerufen am 27.07.2024.