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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Giovanni Boccaccio

Eine Zeit, die selbst die wichtigsten Ereignisse nur mit einer Langsamkeit
verbreiten konnte, die uns jede Neuigkeit entwerten würde, kannte nicht diese
Gier nach etwas "Niedagewesenem", das jetzt allein schon dem Gros unserer
Leser eine Zeitung unentbehrlich macht. Stoffliche Neuentdcckungen zu machen
ist der Ehrgeiz so vieler moderner Schriftsteller, und ein wenn auch noch so
enges Spezialgebiet für sich allein beackern zu können, meistens die Garantie
für eine finanzielle Versorgtheit. So schieben auch hier wieder die Instinkte
und Bedürfnisse des einen Teiles die Wünsche und Werke der anderen.

Wenn es nicht in zu übertriebenen Maße geschähe, man würde diese stoff¬
lichen Neuentdeckungen nur begrüßen können. Denn notwendig wie ein Wachstum
in die Tiefe oder Höhe, ist auch ein solches in die Breite. Gerade für den
Literarhistoriker hat es einen feinen Reiz zu sehen, wie die Grenzen des
dichterisch Erfaßten sich stets weiter ziehen. Neuland der poetischen Darstellung
gewonnen wird, wie bisher unbekannte Motive, Situationen, Charaktere. Stände
der künstlerischen Behandlung erschlossen werden*).

Mit der Renaissance setzt diese neue Vorwärtsbewegung, dieses Wachstum
in die Breite mit vorher nicht gekannter Kraft ein. Neben der stärkeren Mischung
der Stände, der betonteren Stellung des Individuums sind sicherlich auch lite¬
rarische Einflüsse da maßgebend gewesen. Das Mittelalter, wie gesagt, be¬
gnügte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit einer steten Umbildung
und Neuschaffung vorhandenen Stoffes. Und da besonders wieder die völkische
Literatur. Eine ganze Menge allbekannter Erzählungen, schwanke und Streiche
floß das ganze Mittelalter hindurch von Nation zu Nation. Ihr Alter zu be¬
stimmen ist fast unmöglich; dem Hörer jedenfalls waren sie immer jung. Man
geht aber kaum fehl, wenn man als die Heimat der meisten Indien bezeichnet,
wo die frohe lebendige Fabulierkunst des Volkes -- nach einem Ausspruch
Friedrich Schlegels -- drei berühmten Kindern das Leben schenkte: der ge¬
schwätzig plaudernden Novelle, dem wundersüchtigen Märchen und der stilleren
ernsteren Fabel.

Von Indien kamen diese Geschichten nach Ägypten und Arabien, wurden
ins Hebräische. Lateinische und Spanische übertragen und haben denn gleicher¬
maßen die Unterhaltungsliteratur Italiens, Frankreichs. Deutschlands und später
auch Englands gespeist. Die Leser oder meistens wohl Hörer jener Zeit inter¬
essierte gar nicht so sehr die Wahl neuer Stoffe oder Motive, sondern die in¬
dividuelle Ausnützung und Prägung der bekannten. Einer großen Anzahl gab
Boccaccio im "Dekamerone" die klassische Form.



Wir haben noch keine Geschichte dieses "Jn-die-Breite-Wachsens" unserer Literatur,
da die literarische Forschung es aus notwendigen ästhetischen Gründen nur insoweit beachtet,
als es für die Höhenentwicklung Basis und Material bedeutet. Neuerdings kommt zu einzelnen
Motivmonographien auch immer häufiger die Motivuntersuchung bei Einzelpersönüchketten;
wie mir scheint, noch ziemlich Planlos. Denn nicht durch eine bloße Aufzählung und Be¬
schreibung, sondern nur durch eine zahlenmäßige Erfassung der Motive läßt sich später, wenn
genügend Einzeluntersuchungen vorliegen, das Wachstum des Motivkomplexes nachweisen.
Giovanni Boccaccio

Eine Zeit, die selbst die wichtigsten Ereignisse nur mit einer Langsamkeit
verbreiten konnte, die uns jede Neuigkeit entwerten würde, kannte nicht diese
Gier nach etwas „Niedagewesenem", das jetzt allein schon dem Gros unserer
Leser eine Zeitung unentbehrlich macht. Stoffliche Neuentdcckungen zu machen
ist der Ehrgeiz so vieler moderner Schriftsteller, und ein wenn auch noch so
enges Spezialgebiet für sich allein beackern zu können, meistens die Garantie
für eine finanzielle Versorgtheit. So schieben auch hier wieder die Instinkte
und Bedürfnisse des einen Teiles die Wünsche und Werke der anderen.

Wenn es nicht in zu übertriebenen Maße geschähe, man würde diese stoff¬
lichen Neuentdeckungen nur begrüßen können. Denn notwendig wie ein Wachstum
in die Tiefe oder Höhe, ist auch ein solches in die Breite. Gerade für den
Literarhistoriker hat es einen feinen Reiz zu sehen, wie die Grenzen des
dichterisch Erfaßten sich stets weiter ziehen. Neuland der poetischen Darstellung
gewonnen wird, wie bisher unbekannte Motive, Situationen, Charaktere. Stände
der künstlerischen Behandlung erschlossen werden*).

Mit der Renaissance setzt diese neue Vorwärtsbewegung, dieses Wachstum
in die Breite mit vorher nicht gekannter Kraft ein. Neben der stärkeren Mischung
der Stände, der betonteren Stellung des Individuums sind sicherlich auch lite¬
rarische Einflüsse da maßgebend gewesen. Das Mittelalter, wie gesagt, be¬
gnügte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit einer steten Umbildung
und Neuschaffung vorhandenen Stoffes. Und da besonders wieder die völkische
Literatur. Eine ganze Menge allbekannter Erzählungen, schwanke und Streiche
floß das ganze Mittelalter hindurch von Nation zu Nation. Ihr Alter zu be¬
stimmen ist fast unmöglich; dem Hörer jedenfalls waren sie immer jung. Man
geht aber kaum fehl, wenn man als die Heimat der meisten Indien bezeichnet,
wo die frohe lebendige Fabulierkunst des Volkes — nach einem Ausspruch
Friedrich Schlegels — drei berühmten Kindern das Leben schenkte: der ge¬
schwätzig plaudernden Novelle, dem wundersüchtigen Märchen und der stilleren
ernsteren Fabel.

Von Indien kamen diese Geschichten nach Ägypten und Arabien, wurden
ins Hebräische. Lateinische und Spanische übertragen und haben denn gleicher¬
maßen die Unterhaltungsliteratur Italiens, Frankreichs. Deutschlands und später
auch Englands gespeist. Die Leser oder meistens wohl Hörer jener Zeit inter¬
essierte gar nicht so sehr die Wahl neuer Stoffe oder Motive, sondern die in¬
dividuelle Ausnützung und Prägung der bekannten. Einer großen Anzahl gab
Boccaccio im „Dekamerone" die klassische Form.



Wir haben noch keine Geschichte dieses „Jn-die-Breite-Wachsens" unserer Literatur,
da die literarische Forschung es aus notwendigen ästhetischen Gründen nur insoweit beachtet,
als es für die Höhenentwicklung Basis und Material bedeutet. Neuerdings kommt zu einzelnen
Motivmonographien auch immer häufiger die Motivuntersuchung bei Einzelpersönüchketten;
wie mir scheint, noch ziemlich Planlos. Denn nicht durch eine bloße Aufzählung und Be¬
schreibung, sondern nur durch eine zahlenmäßige Erfassung der Motive läßt sich später, wenn
genügend Einzeluntersuchungen vorliegen, das Wachstum des Motivkomplexes nachweisen.
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[0531] Giovanni Boccaccio Eine Zeit, die selbst die wichtigsten Ereignisse nur mit einer Langsamkeit verbreiten konnte, die uns jede Neuigkeit entwerten würde, kannte nicht diese Gier nach etwas „Niedagewesenem", das jetzt allein schon dem Gros unserer Leser eine Zeitung unentbehrlich macht. Stoffliche Neuentdcckungen zu machen ist der Ehrgeiz so vieler moderner Schriftsteller, und ein wenn auch noch so enges Spezialgebiet für sich allein beackern zu können, meistens die Garantie für eine finanzielle Versorgtheit. So schieben auch hier wieder die Instinkte und Bedürfnisse des einen Teiles die Wünsche und Werke der anderen. Wenn es nicht in zu übertriebenen Maße geschähe, man würde diese stoff¬ lichen Neuentdeckungen nur begrüßen können. Denn notwendig wie ein Wachstum in die Tiefe oder Höhe, ist auch ein solches in die Breite. Gerade für den Literarhistoriker hat es einen feinen Reiz zu sehen, wie die Grenzen des dichterisch Erfaßten sich stets weiter ziehen. Neuland der poetischen Darstellung gewonnen wird, wie bisher unbekannte Motive, Situationen, Charaktere. Stände der künstlerischen Behandlung erschlossen werden*). Mit der Renaissance setzt diese neue Vorwärtsbewegung, dieses Wachstum in die Breite mit vorher nicht gekannter Kraft ein. Neben der stärkeren Mischung der Stände, der betonteren Stellung des Individuums sind sicherlich auch lite¬ rarische Einflüsse da maßgebend gewesen. Das Mittelalter, wie gesagt, be¬ gnügte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit einer steten Umbildung und Neuschaffung vorhandenen Stoffes. Und da besonders wieder die völkische Literatur. Eine ganze Menge allbekannter Erzählungen, schwanke und Streiche floß das ganze Mittelalter hindurch von Nation zu Nation. Ihr Alter zu be¬ stimmen ist fast unmöglich; dem Hörer jedenfalls waren sie immer jung. Man geht aber kaum fehl, wenn man als die Heimat der meisten Indien bezeichnet, wo die frohe lebendige Fabulierkunst des Volkes — nach einem Ausspruch Friedrich Schlegels — drei berühmten Kindern das Leben schenkte: der ge¬ schwätzig plaudernden Novelle, dem wundersüchtigen Märchen und der stilleren ernsteren Fabel. Von Indien kamen diese Geschichten nach Ägypten und Arabien, wurden ins Hebräische. Lateinische und Spanische übertragen und haben denn gleicher¬ maßen die Unterhaltungsliteratur Italiens, Frankreichs. Deutschlands und später auch Englands gespeist. Die Leser oder meistens wohl Hörer jener Zeit inter¬ essierte gar nicht so sehr die Wahl neuer Stoffe oder Motive, sondern die in¬ dividuelle Ausnützung und Prägung der bekannten. Einer großen Anzahl gab Boccaccio im „Dekamerone" die klassische Form. Wir haben noch keine Geschichte dieses „Jn-die-Breite-Wachsens" unserer Literatur, da die literarische Forschung es aus notwendigen ästhetischen Gründen nur insoweit beachtet, als es für die Höhenentwicklung Basis und Material bedeutet. Neuerdings kommt zu einzelnen Motivmonographien auch immer häufiger die Motivuntersuchung bei Einzelpersönüchketten; wie mir scheint, noch ziemlich Planlos. Denn nicht durch eine bloße Aufzählung und Be¬ schreibung, sondern nur durch eine zahlenmäßige Erfassung der Motive läßt sich später, wenn genügend Einzeluntersuchungen vorliegen, das Wachstum des Motivkomplexes nachweisen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/531>, abgerufen am 30.12.2024.