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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der Aönig von Sachalin
<Lin russisches Verbrecherschicksal
Otto Goebel von

ußland ist ein Land vieler merkwürdiger Schicksale. Es hängt
das ebensowohl mit den sozialen und politischen Verhältnissen
zusammen, als mit der Eigenart der Bewohner, die teils auf
Rasseneigenschaften und Rassenmischung, teils auf die geschichtliche
Entwicklung zurückgeht, endlich aber zu einem wesentlichen Teil
ein sich immer wiederholendes Erzeugnis der Natur des Landes ist, das mit
seiner uferlosen Ausdehnung ganz andere Begriffe von Zeit und Raum hervor¬
ruft und mit seiner Eintönigkeit eine melancholische Grundstimmung auslöst,
die wie von vulkanischen Strömen durchbrochen wird von Anfällen des Sich-
auslebenwollens und vom Hunger nach neuem Geschehen.

Es war vor einigen Jahren, als ich eine Reise nach Sibirien vorbereitete,
die mich bis auf Sachalin, die Insel der Verbannten, führen sollte. Ich suchte
Petersburg nach Einführungsschreiben und Empfehlungen für Sibirien ab und
hatte mich zu diesem Zweck unter anderem mit dem Vertreter eines großen
Handelshauses Russisch Ostasiens in Verbindung gesetzt. Herr Stürgens ließ
mich bereitwillig bitten, ihn einen Abend auf seiner Datsche zu einer Rücksprache
über meine Reise aufzusuchen.

Es war Abend, aber noch tageshell, als ich hinausfuhr. Die Sonne
machte tief über dem Horizont ihre Bahn. Petersburg stand im Zeichen der
weißen Nächte, die der rauhen Stadt ein paar Wochen lang einen fast südlichen
Glanz verleihen. Eine eigenartige Beleuchtung liegt in diesen Nächten über
Stadt und Landschaft, etwa vergleichbar der, die wir kurz vor Sonnenunter¬
gang kennen. Der Schein der sinkenden Sonne fällt voll auf alle Flächen, die
senkrecht zur Erde errichtet sind, während die der Erdoberfläche gleichlaufenden
in mattem Licht liegen. Golden blinken die Fenster, es glänzen die im Tages¬
licht toten Farben der gelb und rot gestrichenen Hauswände. Es leuchtet alles,
was sonst matt ist.

Der Newski wimmelte von Menschen; unzählige kleine Droschken be¬
lebten die Riesenbreite der Straße. Mehr als sonst hatte der Strom des
Verkehrs die Richtung Newawärts auf die spitze Turmnadel der Admiralität




Der Aönig von Sachalin
<Lin russisches Verbrecherschicksal
Otto Goebel von

ußland ist ein Land vieler merkwürdiger Schicksale. Es hängt
das ebensowohl mit den sozialen und politischen Verhältnissen
zusammen, als mit der Eigenart der Bewohner, die teils auf
Rasseneigenschaften und Rassenmischung, teils auf die geschichtliche
Entwicklung zurückgeht, endlich aber zu einem wesentlichen Teil
ein sich immer wiederholendes Erzeugnis der Natur des Landes ist, das mit
seiner uferlosen Ausdehnung ganz andere Begriffe von Zeit und Raum hervor¬
ruft und mit seiner Eintönigkeit eine melancholische Grundstimmung auslöst,
die wie von vulkanischen Strömen durchbrochen wird von Anfällen des Sich-
auslebenwollens und vom Hunger nach neuem Geschehen.

Es war vor einigen Jahren, als ich eine Reise nach Sibirien vorbereitete,
die mich bis auf Sachalin, die Insel der Verbannten, führen sollte. Ich suchte
Petersburg nach Einführungsschreiben und Empfehlungen für Sibirien ab und
hatte mich zu diesem Zweck unter anderem mit dem Vertreter eines großen
Handelshauses Russisch Ostasiens in Verbindung gesetzt. Herr Stürgens ließ
mich bereitwillig bitten, ihn einen Abend auf seiner Datsche zu einer Rücksprache
über meine Reise aufzusuchen.

Es war Abend, aber noch tageshell, als ich hinausfuhr. Die Sonne
machte tief über dem Horizont ihre Bahn. Petersburg stand im Zeichen der
weißen Nächte, die der rauhen Stadt ein paar Wochen lang einen fast südlichen
Glanz verleihen. Eine eigenartige Beleuchtung liegt in diesen Nächten über
Stadt und Landschaft, etwa vergleichbar der, die wir kurz vor Sonnenunter¬
gang kennen. Der Schein der sinkenden Sonne fällt voll auf alle Flächen, die
senkrecht zur Erde errichtet sind, während die der Erdoberfläche gleichlaufenden
in mattem Licht liegen. Golden blinken die Fenster, es glänzen die im Tages¬
licht toten Farben der gelb und rot gestrichenen Hauswände. Es leuchtet alles,
was sonst matt ist.

Der Newski wimmelte von Menschen; unzählige kleine Droschken be¬
lebten die Riesenbreite der Straße. Mehr als sonst hatte der Strom des
Verkehrs die Richtung Newawärts auf die spitze Turmnadel der Admiralität


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[0098] [Abbildung] Der Aönig von Sachalin <Lin russisches Verbrecherschicksal Otto Goebel von ußland ist ein Land vieler merkwürdiger Schicksale. Es hängt das ebensowohl mit den sozialen und politischen Verhältnissen zusammen, als mit der Eigenart der Bewohner, die teils auf Rasseneigenschaften und Rassenmischung, teils auf die geschichtliche Entwicklung zurückgeht, endlich aber zu einem wesentlichen Teil ein sich immer wiederholendes Erzeugnis der Natur des Landes ist, das mit seiner uferlosen Ausdehnung ganz andere Begriffe von Zeit und Raum hervor¬ ruft und mit seiner Eintönigkeit eine melancholische Grundstimmung auslöst, die wie von vulkanischen Strömen durchbrochen wird von Anfällen des Sich- auslebenwollens und vom Hunger nach neuem Geschehen. Es war vor einigen Jahren, als ich eine Reise nach Sibirien vorbereitete, die mich bis auf Sachalin, die Insel der Verbannten, führen sollte. Ich suchte Petersburg nach Einführungsschreiben und Empfehlungen für Sibirien ab und hatte mich zu diesem Zweck unter anderem mit dem Vertreter eines großen Handelshauses Russisch Ostasiens in Verbindung gesetzt. Herr Stürgens ließ mich bereitwillig bitten, ihn einen Abend auf seiner Datsche zu einer Rücksprache über meine Reise aufzusuchen. Es war Abend, aber noch tageshell, als ich hinausfuhr. Die Sonne machte tief über dem Horizont ihre Bahn. Petersburg stand im Zeichen der weißen Nächte, die der rauhen Stadt ein paar Wochen lang einen fast südlichen Glanz verleihen. Eine eigenartige Beleuchtung liegt in diesen Nächten über Stadt und Landschaft, etwa vergleichbar der, die wir kurz vor Sonnenunter¬ gang kennen. Der Schein der sinkenden Sonne fällt voll auf alle Flächen, die senkrecht zur Erde errichtet sind, während die der Erdoberfläche gleichlaufenden in mattem Licht liegen. Golden blinken die Fenster, es glänzen die im Tages¬ licht toten Farben der gelb und rot gestrichenen Hauswände. Es leuchtet alles, was sonst matt ist. Der Newski wimmelte von Menschen; unzählige kleine Droschken be¬ lebten die Riesenbreite der Straße. Mehr als sonst hatte der Strom des Verkehrs die Richtung Newawärts auf die spitze Turmnadel der Admiralität

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/98>, abgerufen am 27.06.2024.