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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Ratzel in diesen höchst subtilen Dingen nicht
seinem Persönlichen Urteil manchmal zu leicht
objektive Gültigkeit bewußt. Auch das wäre
zu erwägen, daß unsere Generation vielleicht
bereits etwas anderes empfindet als der Ver¬
fasser, daß wir -- wie in der Musik -- das
an Kontrasten und Übergängen noch Erträg¬
liche oder schon Unangenehme anders ab¬
grenzen als er. Aber jedem Naturfreund,
jedem vor allem, der mit der Feder Land¬
schaften oder Naturstimmungen festzuhalten
hat, jedem Reisenden hat Ratzel viel zu sagen.
Ob freilich die Lehrer, denen das Buch ge¬
widmet ist, der "künstlerischen Seite der Geo¬
graphie" die von dem optimistischen Verfasser
erwartete Stelle im Unterricht so leicht schaffen
können, ist eine Frage. Am ehesten Wohl
noch bei der Lektüre lyrischer oder episch¬
lyrischer Dichtung.

Dr. w. M. Becker
Unfertige Gedanke",


ein Buch für reife
Leser und Leserinnen von AdolfGrvth. Verlag
von Josef Singer, Hofbuchhandlung, Stra߬
burg i. E. und Leipzig. Preis 3M. -- Ich
bin sehr ungern an das kleine Büchlein von
hundertfünfundneunzig kleinen Seiten herein-

[Spaltenumbruch]

gegangen. Unfertige GedankenI Was sollen uns
Gedanken, die der Autor selbst unfertig nennt,
wo wir doch gerade nach fertigen, ausgereiften
suchen, wo uns Führer auf allen Gebieten
fehlen? Aber Wilhelm Münch schreibt in der
Monatsschrift für höhere Schulen X. Jahrg.
S. 331: "Wir sind es dem Verfasser schuldig,
sein Buch zu beachten." -- Da hilft also kein
Sperren und Sträuben: es gilt der Pflicht
zu genügen und zu lesen. -- Ich muß nun
gestehen, daß ich selten so eine behagliche und
anregende Zwiesprache mit einem Autor geführt
habe, wie beim Lesen dieser "Unfertigen Ge¬
danken" Groths!
Woher das kommt?

Ja, Rechenschaft ist da schwer zu geben.
Ist väterliches Empfinden so sehr berührt?
Ist's die Behaglichkeit der Ausdrucksweise deS
Mecklenburgers? Ist's die Liebe zur Jugend
und zur Heimat, die aus den anspruchslosen
und doch humorvollen Abschnitten dem Leser
eutgegenquillt? Groth berührt alles, was ihm
im Leben begegnet ist und das ist recht viel:
Fünf Jahre in Japan als Dozent, dann ein
schwerer Kampf in der Heimat, um sich dort
den ihm nach Kenntnissen und Fähigkeiten ge¬
bührenden Platz zu erringen, schließlich Gym-

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Ratzel in diesen höchst subtilen Dingen nicht
seinem Persönlichen Urteil manchmal zu leicht
objektive Gültigkeit bewußt. Auch das wäre
zu erwägen, daß unsere Generation vielleicht
bereits etwas anderes empfindet als der Ver¬
fasser, daß wir — wie in der Musik — das
an Kontrasten und Übergängen noch Erträg¬
liche oder schon Unangenehme anders ab¬
grenzen als er. Aber jedem Naturfreund,
jedem vor allem, der mit der Feder Land¬
schaften oder Naturstimmungen festzuhalten
hat, jedem Reisenden hat Ratzel viel zu sagen.
Ob freilich die Lehrer, denen das Buch ge¬
widmet ist, der „künstlerischen Seite der Geo¬
graphie" die von dem optimistischen Verfasser
erwartete Stelle im Unterricht so leicht schaffen
können, ist eine Frage. Am ehesten Wohl
noch bei der Lektüre lyrischer oder episch¬
lyrischer Dichtung.

Dr. w. M. Becker
Unfertige Gedanke»,


ein Buch für reife
Leser und Leserinnen von AdolfGrvth. Verlag
von Josef Singer, Hofbuchhandlung, Stra߬
burg i. E. und Leipzig. Preis 3M. — Ich
bin sehr ungern an das kleine Büchlein von
hundertfünfundneunzig kleinen Seiten herein-

[Spaltenumbruch]

gegangen. Unfertige GedankenI Was sollen uns
Gedanken, die der Autor selbst unfertig nennt,
wo wir doch gerade nach fertigen, ausgereiften
suchen, wo uns Führer auf allen Gebieten
fehlen? Aber Wilhelm Münch schreibt in der
Monatsschrift für höhere Schulen X. Jahrg.
S. 331: „Wir sind es dem Verfasser schuldig,
sein Buch zu beachten." — Da hilft also kein
Sperren und Sträuben: es gilt der Pflicht
zu genügen und zu lesen. — Ich muß nun
gestehen, daß ich selten so eine behagliche und
anregende Zwiesprache mit einem Autor geführt
habe, wie beim Lesen dieser „Unfertigen Ge¬
danken" Groths!
Woher das kommt?

Ja, Rechenschaft ist da schwer zu geben.
Ist väterliches Empfinden so sehr berührt?
Ist's die Behaglichkeit der Ausdrucksweise deS
Mecklenburgers? Ist's die Liebe zur Jugend
und zur Heimat, die aus den anspruchslosen
und doch humorvollen Abschnitten dem Leser
eutgegenquillt? Groth berührt alles, was ihm
im Leben begegnet ist und das ist recht viel:
Fünf Jahre in Japan als Dozent, dann ein
schwerer Kampf in der Heimat, um sich dort
den ihm nach Kenntnissen und Fähigkeiten ge¬
bührenden Platz zu erringen, schließlich Gym-

[Ende Spaltensatz]


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[0059] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ratzel in diesen höchst subtilen Dingen nicht seinem Persönlichen Urteil manchmal zu leicht objektive Gültigkeit bewußt. Auch das wäre zu erwägen, daß unsere Generation vielleicht bereits etwas anderes empfindet als der Ver¬ fasser, daß wir — wie in der Musik — das an Kontrasten und Übergängen noch Erträg¬ liche oder schon Unangenehme anders ab¬ grenzen als er. Aber jedem Naturfreund, jedem vor allem, der mit der Feder Land¬ schaften oder Naturstimmungen festzuhalten hat, jedem Reisenden hat Ratzel viel zu sagen. Ob freilich die Lehrer, denen das Buch ge¬ widmet ist, der „künstlerischen Seite der Geo¬ graphie" die von dem optimistischen Verfasser erwartete Stelle im Unterricht so leicht schaffen können, ist eine Frage. Am ehesten Wohl noch bei der Lektüre lyrischer oder episch¬ lyrischer Dichtung. Dr. w. M. Becker Unfertige Gedanke», ein Buch für reife Leser und Leserinnen von AdolfGrvth. Verlag von Josef Singer, Hofbuchhandlung, Stra߬ burg i. E. und Leipzig. Preis 3M. — Ich bin sehr ungern an das kleine Büchlein von hundertfünfundneunzig kleinen Seiten herein- gegangen. Unfertige GedankenI Was sollen uns Gedanken, die der Autor selbst unfertig nennt, wo wir doch gerade nach fertigen, ausgereiften suchen, wo uns Führer auf allen Gebieten fehlen? Aber Wilhelm Münch schreibt in der Monatsschrift für höhere Schulen X. Jahrg. S. 331: „Wir sind es dem Verfasser schuldig, sein Buch zu beachten." — Da hilft also kein Sperren und Sträuben: es gilt der Pflicht zu genügen und zu lesen. — Ich muß nun gestehen, daß ich selten so eine behagliche und anregende Zwiesprache mit einem Autor geführt habe, wie beim Lesen dieser „Unfertigen Ge¬ danken" Groths! Woher das kommt? Ja, Rechenschaft ist da schwer zu geben. Ist väterliches Empfinden so sehr berührt? Ist's die Behaglichkeit der Ausdrucksweise deS Mecklenburgers? Ist's die Liebe zur Jugend und zur Heimat, die aus den anspruchslosen und doch humorvollen Abschnitten dem Leser eutgegenquillt? Groth berührt alles, was ihm im Leben begegnet ist und das ist recht viel: Fünf Jahre in Japan als Dozent, dann ein schwerer Kampf in der Heimat, um sich dort den ihm nach Kenntnissen und Fähigkeiten ge¬ bührenden Platz zu erringen, schließlich Gym-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/59>, abgerufen am 27.06.2024.