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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Oberhand; man will sich Schmerzen, Mühen
und Sorgen ersparen (was armen Müttern
so sehr nicht übel zu nehmen sein dürste) und
es sich so bequeni wie möglich machen, Zu¬
letzt werden alle die Fesseln abgeschüttelt, die
dem individuellen Belieben das Wort Gottes,
die Kirche, die weltliche Autorität, die alte
Volkssitte anlegen, und der Pflicht, zur Er¬
haltung des Menschengeschlechts, des eigenen
Volkes beizutragen, wird gar nicht mehr ge¬
dacht. Es läßt sich boraussehen, daß dort,
wo, wie im atheistischen Frankreich und in
der Sozialdemokratie, der Bruch mit aller
Autorität und Tradition am gründlichsten voll¬
zogen ist, die Rationalisierung am weitesten
gediehen sein wird, daß dagegen das Übel dort
am wenigsten um sich greifen wird, wo die
Hemmungen noch ungeschwächt wirken, d, h,
bei den gläubigenKatholiken, DieseVermutung
wird durch die Tatsachen gerechtfertigt. Für
Deutschland, die Schweiz und Holland we¬
nigstens weist eine unanfechtbare Statistik nach,
daß die Katholiken die höchste, die Sozial¬
demokraten die niedrigste Geburtenziffer haben.
Der Gegensatz tritt um so schärfer hervor,
weil sich mit der katholischen Konfession zwei
andere, die Geburtenzunahme in erster Linie
begünstigende Umstände zu verbinden pflogen:
Zugehörigkeit zur landwirtschaftlichen Bevöl¬
kerung und wirtschaftliche Unabhängigkeit;
nicht bloß das Dorf hat günstigere Geburten¬
ziffern aufzuweisen als die Stadt, sondern
auch die kleinen selbständigen: Bauern, Hand¬
werker, Händler haben mehr Kinder als die
Lohnarbeiter und die Beamten. -- Es sind
äußerst peinliche Aufgaben, die aus dieser
Sachlage den Regierungen erwachsen. (Während
ich den Korrekturabzug dieser Anzeige lese,
geht mir eine neue Schrift desselben Ver¬
fassers über denselben Gegenstand zu: Das
Zweikindersystem im Anmarsch und der Feld-
zug dagegen. Berlin, AugustHirschwald, 1913.)

(Lark Jentsch
Unterricht und Erziehung

Wenn man unter den Tausenden, die all¬
jährlich aus den schönsten Gegenden der Erde
heimkehren, nach Natureindrücken fragt, wird
man die meisten in Verlegenheit setzen. Über
gute Hotels, genossene Sehenswürdigkeiten,
Wirtstafelbekanntschaften, ja selbst über die

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abgefahrenen Kilometer wird man eher be¬
friedigende Auskunft erhalten, als über die
gesehene Natur. Ähnliche Erfahrungen kann
man auch bei den Reiseberichten mancher
Schriftsteller machen. Oft sind abgegriffene
Redensarten oder, wo ein besonderer Eindruck
erzielt werden soll, schreiende Brutalitäten die
Werkzeuge, womit solche Naturschilderer ar¬
beiten. Wir würden das noch mehr empfinden,
wenn wir nicht schon abgestumpft wären. Wie
vielen von uns ist überhaupt der Genuß einer
Landschaft mehr als Konvention, wie vielen
wirkliches Erlebnis? Ist nun auch Natur¬
verständnis gewiß ebenso schwer lehrbar wie
Kunstverständnis, so wird doch der Weg zu
einer Verfeinerung des Empfindens für das
Naturschöne und zur Fähigkeit seiner Schil¬
derung manchem durch Naturbetrachtung ge¬
bahnt und durch Versenken in echte Schil¬
derungen. Aber auch der Theoretiker des
Schauens und der Wiedergabe landschaftlicher
Objekte wird hierbei willkommen sein. In
diesem Sinne möchte ich auf Friedrich Ratzels
"über Naturschildermig" Buch hinweisen.
Wenige Wochen nach seinem Tode 1304 zuerst
erschienen, liegt es heute in dritter Auflage
vor (Volksausgabe, Oldenbourg, München und
Berlin 1911). Hier haben wir, auf Grund
einer Ästhetik des Naturschönen und des Er¬
habenen, eine Einführung in die Kunst der
Naturschilderung, die uns der Vereinigung
wissenschaftlichen und künstlerischenBeobachtens
erwächst. Neben den Darlegungen über Sehen,
Beobachten, Schauen, über die Beziehungen
der Naturschilderung zur Landschaftsmalerei
stehen da sehr feine Bemerkungen über den
Wert des tagebuchartig festgehaltenen Natur¬
eindrucks, über die Gefahren einer Tendenz
zum Schönen, zum Gelehrten in der Dar¬
stellung, über die mit der Zeit gewachsenen
sprachlichen Ausdrucksformen für die Natur¬
wiedergabe, mehr technische Erörterungen über
die Verwendung von Zeitwort und Adjektiv,
über Bild und Vergleich. Überall treten, von
eineni Meister der Naturschilderung aus¬
gewählt, andere Meister mit Beispielen auf,
Jean Paul, Adalbert Stifter, Heinrich Nos,
dann die großen Reisenden des neunzehnten
Jahrhunderts bis auf den nach Ratzels Ansicht
größten Schilderer unter den noch Lebenden,
Frithjof Raufen. Es mag dahingestellt bleiben, ob

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Oberhand; man will sich Schmerzen, Mühen
und Sorgen ersparen (was armen Müttern
so sehr nicht übel zu nehmen sein dürste) und
es sich so bequeni wie möglich machen, Zu¬
letzt werden alle die Fesseln abgeschüttelt, die
dem individuellen Belieben das Wort Gottes,
die Kirche, die weltliche Autorität, die alte
Volkssitte anlegen, und der Pflicht, zur Er¬
haltung des Menschengeschlechts, des eigenen
Volkes beizutragen, wird gar nicht mehr ge¬
dacht. Es läßt sich boraussehen, daß dort,
wo, wie im atheistischen Frankreich und in
der Sozialdemokratie, der Bruch mit aller
Autorität und Tradition am gründlichsten voll¬
zogen ist, die Rationalisierung am weitesten
gediehen sein wird, daß dagegen das Übel dort
am wenigsten um sich greifen wird, wo die
Hemmungen noch ungeschwächt wirken, d, h,
bei den gläubigenKatholiken, DieseVermutung
wird durch die Tatsachen gerechtfertigt. Für
Deutschland, die Schweiz und Holland we¬
nigstens weist eine unanfechtbare Statistik nach,
daß die Katholiken die höchste, die Sozial¬
demokraten die niedrigste Geburtenziffer haben.
Der Gegensatz tritt um so schärfer hervor,
weil sich mit der katholischen Konfession zwei
andere, die Geburtenzunahme in erster Linie
begünstigende Umstände zu verbinden pflogen:
Zugehörigkeit zur landwirtschaftlichen Bevöl¬
kerung und wirtschaftliche Unabhängigkeit;
nicht bloß das Dorf hat günstigere Geburten¬
ziffern aufzuweisen als die Stadt, sondern
auch die kleinen selbständigen: Bauern, Hand¬
werker, Händler haben mehr Kinder als die
Lohnarbeiter und die Beamten. — Es sind
äußerst peinliche Aufgaben, die aus dieser
Sachlage den Regierungen erwachsen. (Während
ich den Korrekturabzug dieser Anzeige lese,
geht mir eine neue Schrift desselben Ver¬
fassers über denselben Gegenstand zu: Das
Zweikindersystem im Anmarsch und der Feld-
zug dagegen. Berlin, AugustHirschwald, 1913.)

(Lark Jentsch
Unterricht und Erziehung

Wenn man unter den Tausenden, die all¬
jährlich aus den schönsten Gegenden der Erde
heimkehren, nach Natureindrücken fragt, wird
man die meisten in Verlegenheit setzen. Über
gute Hotels, genossene Sehenswürdigkeiten,
Wirtstafelbekanntschaften, ja selbst über die

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abgefahrenen Kilometer wird man eher be¬
friedigende Auskunft erhalten, als über die
gesehene Natur. Ähnliche Erfahrungen kann
man auch bei den Reiseberichten mancher
Schriftsteller machen. Oft sind abgegriffene
Redensarten oder, wo ein besonderer Eindruck
erzielt werden soll, schreiende Brutalitäten die
Werkzeuge, womit solche Naturschilderer ar¬
beiten. Wir würden das noch mehr empfinden,
wenn wir nicht schon abgestumpft wären. Wie
vielen von uns ist überhaupt der Genuß einer
Landschaft mehr als Konvention, wie vielen
wirkliches Erlebnis? Ist nun auch Natur¬
verständnis gewiß ebenso schwer lehrbar wie
Kunstverständnis, so wird doch der Weg zu
einer Verfeinerung des Empfindens für das
Naturschöne und zur Fähigkeit seiner Schil¬
derung manchem durch Naturbetrachtung ge¬
bahnt und durch Versenken in echte Schil¬
derungen. Aber auch der Theoretiker des
Schauens und der Wiedergabe landschaftlicher
Objekte wird hierbei willkommen sein. In
diesem Sinne möchte ich auf Friedrich Ratzels
„über Naturschildermig" Buch hinweisen.
Wenige Wochen nach seinem Tode 1304 zuerst
erschienen, liegt es heute in dritter Auflage
vor (Volksausgabe, Oldenbourg, München und
Berlin 1911). Hier haben wir, auf Grund
einer Ästhetik des Naturschönen und des Er¬
habenen, eine Einführung in die Kunst der
Naturschilderung, die uns der Vereinigung
wissenschaftlichen und künstlerischenBeobachtens
erwächst. Neben den Darlegungen über Sehen,
Beobachten, Schauen, über die Beziehungen
der Naturschilderung zur Landschaftsmalerei
stehen da sehr feine Bemerkungen über den
Wert des tagebuchartig festgehaltenen Natur¬
eindrucks, über die Gefahren einer Tendenz
zum Schönen, zum Gelehrten in der Dar¬
stellung, über die mit der Zeit gewachsenen
sprachlichen Ausdrucksformen für die Natur¬
wiedergabe, mehr technische Erörterungen über
die Verwendung von Zeitwort und Adjektiv,
über Bild und Vergleich. Überall treten, von
eineni Meister der Naturschilderung aus¬
gewählt, andere Meister mit Beispielen auf,
Jean Paul, Adalbert Stifter, Heinrich Nos,
dann die großen Reisenden des neunzehnten
Jahrhunderts bis auf den nach Ratzels Ansicht
größten Schilderer unter den noch Lebenden,
Frithjof Raufen. Es mag dahingestellt bleiben, ob

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[0058] Maßgebliches und Unmaßgebliches Oberhand; man will sich Schmerzen, Mühen und Sorgen ersparen (was armen Müttern so sehr nicht übel zu nehmen sein dürste) und es sich so bequeni wie möglich machen, Zu¬ letzt werden alle die Fesseln abgeschüttelt, die dem individuellen Belieben das Wort Gottes, die Kirche, die weltliche Autorität, die alte Volkssitte anlegen, und der Pflicht, zur Er¬ haltung des Menschengeschlechts, des eigenen Volkes beizutragen, wird gar nicht mehr ge¬ dacht. Es läßt sich boraussehen, daß dort, wo, wie im atheistischen Frankreich und in der Sozialdemokratie, der Bruch mit aller Autorität und Tradition am gründlichsten voll¬ zogen ist, die Rationalisierung am weitesten gediehen sein wird, daß dagegen das Übel dort am wenigsten um sich greifen wird, wo die Hemmungen noch ungeschwächt wirken, d, h, bei den gläubigenKatholiken, DieseVermutung wird durch die Tatsachen gerechtfertigt. Für Deutschland, die Schweiz und Holland we¬ nigstens weist eine unanfechtbare Statistik nach, daß die Katholiken die höchste, die Sozial¬ demokraten die niedrigste Geburtenziffer haben. Der Gegensatz tritt um so schärfer hervor, weil sich mit der katholischen Konfession zwei andere, die Geburtenzunahme in erster Linie begünstigende Umstände zu verbinden pflogen: Zugehörigkeit zur landwirtschaftlichen Bevöl¬ kerung und wirtschaftliche Unabhängigkeit; nicht bloß das Dorf hat günstigere Geburten¬ ziffern aufzuweisen als die Stadt, sondern auch die kleinen selbständigen: Bauern, Hand¬ werker, Händler haben mehr Kinder als die Lohnarbeiter und die Beamten. — Es sind äußerst peinliche Aufgaben, die aus dieser Sachlage den Regierungen erwachsen. (Während ich den Korrekturabzug dieser Anzeige lese, geht mir eine neue Schrift desselben Ver¬ fassers über denselben Gegenstand zu: Das Zweikindersystem im Anmarsch und der Feld- zug dagegen. Berlin, AugustHirschwald, 1913.) (Lark Jentsch Unterricht und Erziehung Wenn man unter den Tausenden, die all¬ jährlich aus den schönsten Gegenden der Erde heimkehren, nach Natureindrücken fragt, wird man die meisten in Verlegenheit setzen. Über gute Hotels, genossene Sehenswürdigkeiten, Wirtstafelbekanntschaften, ja selbst über die abgefahrenen Kilometer wird man eher be¬ friedigende Auskunft erhalten, als über die gesehene Natur. Ähnliche Erfahrungen kann man auch bei den Reiseberichten mancher Schriftsteller machen. Oft sind abgegriffene Redensarten oder, wo ein besonderer Eindruck erzielt werden soll, schreiende Brutalitäten die Werkzeuge, womit solche Naturschilderer ar¬ beiten. Wir würden das noch mehr empfinden, wenn wir nicht schon abgestumpft wären. Wie vielen von uns ist überhaupt der Genuß einer Landschaft mehr als Konvention, wie vielen wirkliches Erlebnis? Ist nun auch Natur¬ verständnis gewiß ebenso schwer lehrbar wie Kunstverständnis, so wird doch der Weg zu einer Verfeinerung des Empfindens für das Naturschöne und zur Fähigkeit seiner Schil¬ derung manchem durch Naturbetrachtung ge¬ bahnt und durch Versenken in echte Schil¬ derungen. Aber auch der Theoretiker des Schauens und der Wiedergabe landschaftlicher Objekte wird hierbei willkommen sein. In diesem Sinne möchte ich auf Friedrich Ratzels „über Naturschildermig" Buch hinweisen. Wenige Wochen nach seinem Tode 1304 zuerst erschienen, liegt es heute in dritter Auflage vor (Volksausgabe, Oldenbourg, München und Berlin 1911). Hier haben wir, auf Grund einer Ästhetik des Naturschönen und des Er¬ habenen, eine Einführung in die Kunst der Naturschilderung, die uns der Vereinigung wissenschaftlichen und künstlerischenBeobachtens erwächst. Neben den Darlegungen über Sehen, Beobachten, Schauen, über die Beziehungen der Naturschilderung zur Landschaftsmalerei stehen da sehr feine Bemerkungen über den Wert des tagebuchartig festgehaltenen Natur¬ eindrucks, über die Gefahren einer Tendenz zum Schönen, zum Gelehrten in der Dar¬ stellung, über die mit der Zeit gewachsenen sprachlichen Ausdrucksformen für die Natur¬ wiedergabe, mehr technische Erörterungen über die Verwendung von Zeitwort und Adjektiv, über Bild und Vergleich. Überall treten, von eineni Meister der Naturschilderung aus¬ gewählt, andere Meister mit Beispielen auf, Jean Paul, Adalbert Stifter, Heinrich Nos, dann die großen Reisenden des neunzehnten Jahrhunderts bis auf den nach Ratzels Ansicht größten Schilderer unter den noch Lebenden, Frithjof Raufen. Es mag dahingestellt bleiben, ob

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/58>, abgerufen am 29.06.2024.