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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zu Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag

ZU Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag
v Dr. Karl Freye i onn

or zehn Jahren fragte mich ein praktisch gerichteter, aber durchaus
gebildeter Mann: ob Jean Paul nicht ein französischer Schrift¬
steller sei? Gerade in den letzten Jahren ist der Dichter zweifellos
wieder bekannter geworden; aber ich fürchte, ich fürchte: möglich
wäre jene Frage auch heute noch.

Wie ist das erklärbar? Wie kann ein Autor, dessen Ruhm einst dem
seiner Zeitgenossen Schiller und Goethe gleichkam, so sehr verschollen sein, daß
Schriftsteller geringeren Ranges -- denken wir an Hauff oder Zschokke -- seinen
Ruhm im Volk um das Zehnfache übertreffen? Es ließe sich eine kurze Antwort
darauf geben: weil der Schulunterricht meist nicht einmal seinen Namen erwähnt.
Aber im Grunde ist das ja noch keine Antwort; sondern auch da fragen wir
wieder: warum?

Nun, es gibt ja Modeerscheinungen; unverdienter Ruhm wird ja oft später
durch gänzliche Vergessenheit bestraft. Und so könnten wir denn als Versuch
der Begründung eine ganze Reihe von Vorwürfen ausgraben, die man gegen
Jean Paul gerichtet hat: er soll ein Blender gewesen sein; seine Werke sollen
zwar von schönen und geistvollen Stellen wimmeln, aber jedes einheitlichen
Plans entbehren; er soll sich nicht haben in Zucht nehmen können; seine Bücher
sollen dunkel und verworren sein, und die eigentliche Kraft, > die einem Dichter
dauernde Wirkung verschafft, soll ihm fehlen, die Kraft der Gestaltung. Was
er in seiner willkürlichen Art angriff, das sollen uns andere reiner und besser
gegeben haben, und es soll deshalb nutzlos sein, ihn wieder ausgraben zu
wollen. In der Tat, diese Vorwürfe sind viel weiter verbreitet als die Kenntnis
Jean Paulscher Schriften; sicher gibt es mehr Deutsche, die zu wissen glauben,
daß man Jean Paul nicht lesen könne, als solche, die ihn gelesen haben. Ist
diese Meinung berechtigt? Oder -- falls sie es nicht sein sollte -- wie konnten
diese Gerüchte aufkommen und sich festsetzen?

Falls Jean Paul eine Modeerscheinung war -- wodurch hat er denn
seinen Zeitgenossen gefallen? Es wird darauf in der Regel geantwortet: durch
seine Sentimentalität und durch die "schönen Stellen" seiner Werke. Nun,
daran ist sicher Wahres. Gerade die sentimentalen Schriften haben Erfolg
gehabt; den meisten Ruhm unter allen Büchern Jean Pauls hat der forciert
sentimentale "Hesperus" errungen, über dessen Wert sich immerhin streiten läßt.
Ja, es gibt sogar kleinere Arbeiten Jean Pauls, die nichts als ungesunde
Künstelei sind, während sie doch zu ihrer Zeit ihr Publikum fanden. Und
wirklich hat man gerade aus Jean Pauls Werken mit Vorliebe die schönen
Stellen ausgezogen, man hat sie in bändereichen und vielgelesenen Sammlungen
gesondert herausgegeben, und bis auf den heutigen Tag ist diese Art von Jean-


Zu Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag

ZU Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag
v Dr. Karl Freye i onn

or zehn Jahren fragte mich ein praktisch gerichteter, aber durchaus
gebildeter Mann: ob Jean Paul nicht ein französischer Schrift¬
steller sei? Gerade in den letzten Jahren ist der Dichter zweifellos
wieder bekannter geworden; aber ich fürchte, ich fürchte: möglich
wäre jene Frage auch heute noch.

Wie ist das erklärbar? Wie kann ein Autor, dessen Ruhm einst dem
seiner Zeitgenossen Schiller und Goethe gleichkam, so sehr verschollen sein, daß
Schriftsteller geringeren Ranges — denken wir an Hauff oder Zschokke — seinen
Ruhm im Volk um das Zehnfache übertreffen? Es ließe sich eine kurze Antwort
darauf geben: weil der Schulunterricht meist nicht einmal seinen Namen erwähnt.
Aber im Grunde ist das ja noch keine Antwort; sondern auch da fragen wir
wieder: warum?

Nun, es gibt ja Modeerscheinungen; unverdienter Ruhm wird ja oft später
durch gänzliche Vergessenheit bestraft. Und so könnten wir denn als Versuch
der Begründung eine ganze Reihe von Vorwürfen ausgraben, die man gegen
Jean Paul gerichtet hat: er soll ein Blender gewesen sein; seine Werke sollen
zwar von schönen und geistvollen Stellen wimmeln, aber jedes einheitlichen
Plans entbehren; er soll sich nicht haben in Zucht nehmen können; seine Bücher
sollen dunkel und verworren sein, und die eigentliche Kraft, > die einem Dichter
dauernde Wirkung verschafft, soll ihm fehlen, die Kraft der Gestaltung. Was
er in seiner willkürlichen Art angriff, das sollen uns andere reiner und besser
gegeben haben, und es soll deshalb nutzlos sein, ihn wieder ausgraben zu
wollen. In der Tat, diese Vorwürfe sind viel weiter verbreitet als die Kenntnis
Jean Paulscher Schriften; sicher gibt es mehr Deutsche, die zu wissen glauben,
daß man Jean Paul nicht lesen könne, als solche, die ihn gelesen haben. Ist
diese Meinung berechtigt? Oder — falls sie es nicht sein sollte — wie konnten
diese Gerüchte aufkommen und sich festsetzen?

Falls Jean Paul eine Modeerscheinung war — wodurch hat er denn
seinen Zeitgenossen gefallen? Es wird darauf in der Regel geantwortet: durch
seine Sentimentalität und durch die „schönen Stellen" seiner Werke. Nun,
daran ist sicher Wahres. Gerade die sentimentalen Schriften haben Erfolg
gehabt; den meisten Ruhm unter allen Büchern Jean Pauls hat der forciert
sentimentale „Hesperus" errungen, über dessen Wert sich immerhin streiten läßt.
Ja, es gibt sogar kleinere Arbeiten Jean Pauls, die nichts als ungesunde
Künstelei sind, während sie doch zu ihrer Zeit ihr Publikum fanden. Und
wirklich hat man gerade aus Jean Pauls Werken mit Vorliebe die schönen
Stellen ausgezogen, man hat sie in bändereichen und vielgelesenen Sammlungen
gesondert herausgegeben, und bis auf den heutigen Tag ist diese Art von Jean-


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[0578] Zu Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag ZU Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag v Dr. Karl Freye i onn or zehn Jahren fragte mich ein praktisch gerichteter, aber durchaus gebildeter Mann: ob Jean Paul nicht ein französischer Schrift¬ steller sei? Gerade in den letzten Jahren ist der Dichter zweifellos wieder bekannter geworden; aber ich fürchte, ich fürchte: möglich wäre jene Frage auch heute noch. Wie ist das erklärbar? Wie kann ein Autor, dessen Ruhm einst dem seiner Zeitgenossen Schiller und Goethe gleichkam, so sehr verschollen sein, daß Schriftsteller geringeren Ranges — denken wir an Hauff oder Zschokke — seinen Ruhm im Volk um das Zehnfache übertreffen? Es ließe sich eine kurze Antwort darauf geben: weil der Schulunterricht meist nicht einmal seinen Namen erwähnt. Aber im Grunde ist das ja noch keine Antwort; sondern auch da fragen wir wieder: warum? Nun, es gibt ja Modeerscheinungen; unverdienter Ruhm wird ja oft später durch gänzliche Vergessenheit bestraft. Und so könnten wir denn als Versuch der Begründung eine ganze Reihe von Vorwürfen ausgraben, die man gegen Jean Paul gerichtet hat: er soll ein Blender gewesen sein; seine Werke sollen zwar von schönen und geistvollen Stellen wimmeln, aber jedes einheitlichen Plans entbehren; er soll sich nicht haben in Zucht nehmen können; seine Bücher sollen dunkel und verworren sein, und die eigentliche Kraft, > die einem Dichter dauernde Wirkung verschafft, soll ihm fehlen, die Kraft der Gestaltung. Was er in seiner willkürlichen Art angriff, das sollen uns andere reiner und besser gegeben haben, und es soll deshalb nutzlos sein, ihn wieder ausgraben zu wollen. In der Tat, diese Vorwürfe sind viel weiter verbreitet als die Kenntnis Jean Paulscher Schriften; sicher gibt es mehr Deutsche, die zu wissen glauben, daß man Jean Paul nicht lesen könne, als solche, die ihn gelesen haben. Ist diese Meinung berechtigt? Oder — falls sie es nicht sein sollte — wie konnten diese Gerüchte aufkommen und sich festsetzen? Falls Jean Paul eine Modeerscheinung war — wodurch hat er denn seinen Zeitgenossen gefallen? Es wird darauf in der Regel geantwortet: durch seine Sentimentalität und durch die „schönen Stellen" seiner Werke. Nun, daran ist sicher Wahres. Gerade die sentimentalen Schriften haben Erfolg gehabt; den meisten Ruhm unter allen Büchern Jean Pauls hat der forciert sentimentale „Hesperus" errungen, über dessen Wert sich immerhin streiten läßt. Ja, es gibt sogar kleinere Arbeiten Jean Pauls, die nichts als ungesunde Künstelei sind, während sie doch zu ihrer Zeit ihr Publikum fanden. Und wirklich hat man gerade aus Jean Pauls Werken mit Vorliebe die schönen Stellen ausgezogen, man hat sie in bändereichen und vielgelesenen Sammlungen gesondert herausgegeben, und bis auf den heutigen Tag ist diese Art von Jean-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/578>, abgerufen am 27.06.2024.