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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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5. w. Raiffeisen
Dr. wuttig von in

u den interessantesten Erscheinungen der Wirtschaftsgeschichte des
neunzehnten Jahrhunderts kann unbedenklich die Bewegung gezählt
werden, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die wirtschaftliche
Schwäche des "kleinen Mannes" mit der daraus folgenden Ab¬
hängigkeit des einzelnen vom Kapital dadurch auszugleichen, daß
sie die vielen schwachen Einzelexistenzen zusammenfaßte und sie in dieser Zu¬
sammenfassung in die Reihe der wirtschaftlichen Machtfaktoren einrücken ließ,
die Genossenschaftsbewegung.

Nicht nur recht stattliche absolute Ziffern weisen auf die Erfolge dieser
Zusammenfassung hin. Darüber hinaus macht die wirtschaftliche, soziale und
politische Bedeutung dieser Bewegung vor allen: die Tatsache aus, daß ungeheuer
viele einzelne selbständige Existenzen an ihr beteiligt sind. Und diese Seite der
Sache macht zum mindesten die im Verhältnis zum eigentlichen Bankwesen und
ähnlichen Geldkonzentrationen zahlenmäßig vielleicht weniger hervortretende reine
Kapitalzusammenfassung im Genossenschaftswesen wett, wenngleich auch diese
sich in Deutschland bereits auf Milliarden beläuft. Heißt doch, namentlich im
ländlichen Genossenschaftswesen, Genossenschaftsmitglied fast ausnahmslos nichts
weniger als Haushaltungsvorstand, Familienhaupt, und macht demnach den
Kreis der am Genossenschaftswesen Beteiligten nicht nur die absolute Mitglieder¬
zahl, sondern das Mehrfache dieser Zahl aus. Um welchen Personenkreis es
sich dabei handelt, läßt demnach die Statistik nur ahnen, die als an Genossen¬
schaften im Deutschen Reich als Mitglieder beteiligt 4877 850*) Personen auf¬
führt. Also ein sehr beträchtlicher Teil der erwerbenden Bevölkerung des Reichs
ist in seiner wirtschaftlichen Gebahrung mit dem Genossenschaftswesen mehr oder
weniger eng verknüpft.

Angesichts dieses Verhältnisses muß es befremden, wie wenig die Kenntnis
dieses Gebietes auch in den Kreisen der Gebildeten verbreitet ist. Gehen doch
die Anschauungen über Genossenschaftswesen bei den meisten kaum über die
Kenntnis des Namens Schulze-Delitzsch hinaus und ist doch der Name Raiffeisen
nicht einmal allen im öffentlichen Leben Stehenden geläufig. Dabei verdankt
Schulze-Delitzsch wohl das Bekanntsein seines Namens zu einem wesentlichen Teil



*) Vgl. Ackermann, Kurzer Führer durch das deutsche Genossenschaftswesen, S. 47.


5. w. Raiffeisen
Dr. wuttig von in

u den interessantesten Erscheinungen der Wirtschaftsgeschichte des
neunzehnten Jahrhunderts kann unbedenklich die Bewegung gezählt
werden, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die wirtschaftliche
Schwäche des „kleinen Mannes" mit der daraus folgenden Ab¬
hängigkeit des einzelnen vom Kapital dadurch auszugleichen, daß
sie die vielen schwachen Einzelexistenzen zusammenfaßte und sie in dieser Zu¬
sammenfassung in die Reihe der wirtschaftlichen Machtfaktoren einrücken ließ,
die Genossenschaftsbewegung.

Nicht nur recht stattliche absolute Ziffern weisen auf die Erfolge dieser
Zusammenfassung hin. Darüber hinaus macht die wirtschaftliche, soziale und
politische Bedeutung dieser Bewegung vor allen: die Tatsache aus, daß ungeheuer
viele einzelne selbständige Existenzen an ihr beteiligt sind. Und diese Seite der
Sache macht zum mindesten die im Verhältnis zum eigentlichen Bankwesen und
ähnlichen Geldkonzentrationen zahlenmäßig vielleicht weniger hervortretende reine
Kapitalzusammenfassung im Genossenschaftswesen wett, wenngleich auch diese
sich in Deutschland bereits auf Milliarden beläuft. Heißt doch, namentlich im
ländlichen Genossenschaftswesen, Genossenschaftsmitglied fast ausnahmslos nichts
weniger als Haushaltungsvorstand, Familienhaupt, und macht demnach den
Kreis der am Genossenschaftswesen Beteiligten nicht nur die absolute Mitglieder¬
zahl, sondern das Mehrfache dieser Zahl aus. Um welchen Personenkreis es
sich dabei handelt, läßt demnach die Statistik nur ahnen, die als an Genossen¬
schaften im Deutschen Reich als Mitglieder beteiligt 4877 850*) Personen auf¬
führt. Also ein sehr beträchtlicher Teil der erwerbenden Bevölkerung des Reichs
ist in seiner wirtschaftlichen Gebahrung mit dem Genossenschaftswesen mehr oder
weniger eng verknüpft.

Angesichts dieses Verhältnisses muß es befremden, wie wenig die Kenntnis
dieses Gebietes auch in den Kreisen der Gebildeten verbreitet ist. Gehen doch
die Anschauungen über Genossenschaftswesen bei den meisten kaum über die
Kenntnis des Namens Schulze-Delitzsch hinaus und ist doch der Name Raiffeisen
nicht einmal allen im öffentlichen Leben Stehenden geläufig. Dabei verdankt
Schulze-Delitzsch wohl das Bekanntsein seines Namens zu einem wesentlichen Teil



*) Vgl. Ackermann, Kurzer Führer durch das deutsche Genossenschaftswesen, S. 47.
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[0563] [Abbildung] 5. w. Raiffeisen Dr. wuttig von in u den interessantesten Erscheinungen der Wirtschaftsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts kann unbedenklich die Bewegung gezählt werden, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die wirtschaftliche Schwäche des „kleinen Mannes" mit der daraus folgenden Ab¬ hängigkeit des einzelnen vom Kapital dadurch auszugleichen, daß sie die vielen schwachen Einzelexistenzen zusammenfaßte und sie in dieser Zu¬ sammenfassung in die Reihe der wirtschaftlichen Machtfaktoren einrücken ließ, die Genossenschaftsbewegung. Nicht nur recht stattliche absolute Ziffern weisen auf die Erfolge dieser Zusammenfassung hin. Darüber hinaus macht die wirtschaftliche, soziale und politische Bedeutung dieser Bewegung vor allen: die Tatsache aus, daß ungeheuer viele einzelne selbständige Existenzen an ihr beteiligt sind. Und diese Seite der Sache macht zum mindesten die im Verhältnis zum eigentlichen Bankwesen und ähnlichen Geldkonzentrationen zahlenmäßig vielleicht weniger hervortretende reine Kapitalzusammenfassung im Genossenschaftswesen wett, wenngleich auch diese sich in Deutschland bereits auf Milliarden beläuft. Heißt doch, namentlich im ländlichen Genossenschaftswesen, Genossenschaftsmitglied fast ausnahmslos nichts weniger als Haushaltungsvorstand, Familienhaupt, und macht demnach den Kreis der am Genossenschaftswesen Beteiligten nicht nur die absolute Mitglieder¬ zahl, sondern das Mehrfache dieser Zahl aus. Um welchen Personenkreis es sich dabei handelt, läßt demnach die Statistik nur ahnen, die als an Genossen¬ schaften im Deutschen Reich als Mitglieder beteiligt 4877 850*) Personen auf¬ führt. Also ein sehr beträchtlicher Teil der erwerbenden Bevölkerung des Reichs ist in seiner wirtschaftlichen Gebahrung mit dem Genossenschaftswesen mehr oder weniger eng verknüpft. Angesichts dieses Verhältnisses muß es befremden, wie wenig die Kenntnis dieses Gebietes auch in den Kreisen der Gebildeten verbreitet ist. Gehen doch die Anschauungen über Genossenschaftswesen bei den meisten kaum über die Kenntnis des Namens Schulze-Delitzsch hinaus und ist doch der Name Raiffeisen nicht einmal allen im öffentlichen Leben Stehenden geläufig. Dabei verdankt Schulze-Delitzsch wohl das Bekanntsein seines Namens zu einem wesentlichen Teil *) Vgl. Ackermann, Kurzer Führer durch das deutsche Genossenschaftswesen, S. 47.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/563>, abgerufen am 22.07.2024.