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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Für oder wider die innere Kolonisation?

Wie kann man bessern? Rüttgers macht ausgezeichnete Vorschläge: "den
Bedürfnissen des kindlichen Gemütes, seinen formalen und stofflichen Interessen
werden die Werke der Volksliteratur, die Märchen und Sagen viel eher ent¬
sprechen, als die Werke der klassischen und modernen Literatur. . . Apollos
edles Gewand und gemessener Schritt, die priesterlich getragene Leier und
pathetische Gebärde passen schlecht zu germanischer Kraft und toller Wildheit,
zu unserer bunten Phantastik und versonnenen Mystik." Das sind vortreffliche
Grundsätze. Unsere Zwölfjährigen lächeln bereits vornehm über die schönsten
Märchen, und mit sechzehn ist es auch mit den Sagen für immer vorbei.
Dann kommt die kosmopolitische und (nicht im schlechten Sinne) artistische
Dichtung der Klassiker (man rede hier ja nicht von dem "nationalen" Tell!),
und wir wundern uns über den Rückgang alles Volkstümlichen, und beklagen
uns noch über den Mangel an Bodenständigkeit.

Da wäre noch viel zu sagen. Wer weiß z. B., daß das Erzählen eine
große Kunst ist und hohe Freude gewähren kann? Alle die kleinen Mittel der
Schule, Sprechen, Wiedergeben von Beobachtetem, Aufsätze, können im Sinne
einer verständigen Kunsterziehung angewandt werden. Aber es muß von unten
herauf geschehen. Immer heißt es, das Kind ist der größte Künstler. Weshalb
gehen wir nicht genauer auf seine Künstlereigenschaften ein und entwickeln sie
organisch? Nur weil sie nie erzählen lernten, ruinieren unsere Erwachsenen
die anmutigste Geschichte bei der Wiedergabe, nur weil sie nie sprechen lernten,
stochern unsere Redner aus dem Manuskript mühevoll ihre Sätze zusammen,
nur weil sie nie lernten, das Naheliegende und Reale knapp und klar aus¬
zudrücken, schreiben unsere Juristen ein ohnmächtiges Deutsch. Gewiß liegt viel
an der Begabung, aber zu einem tüchtigen Durchschnitt könnten wir es alle
bringen. Und wir müssen es, wollen wir vor unseren Nachbarn nicht ewig
als das Volk der weltfremden Gelehrten und kulturlosen Barbaren gelten.




Kr oder wider die innere Aolonisation?

er schöne Glaube ist wieder einmal zerstört. Dafür sollte man
-- recht betrachtet -- Herrn von Oldenburg nur Dank wissen.
So klar, so offen, so entschieden hat sich bisher kaum jemand
an solcher Stelle wider die innere Kolonisation erklärt. Jetzt
haben wir es schwarz auf weiß.

In neuester Zeit wird über die innere Kolonisation nicht nur mehr denn
je geschrieben und geredet, sondern es wird auch mehr denn bisher gehandelt.
Das muß gerade auch mit Rücksicht auf die angekündigten Regierungsvorlagen


Für oder wider die innere Kolonisation?

Wie kann man bessern? Rüttgers macht ausgezeichnete Vorschläge: „den
Bedürfnissen des kindlichen Gemütes, seinen formalen und stofflichen Interessen
werden die Werke der Volksliteratur, die Märchen und Sagen viel eher ent¬
sprechen, als die Werke der klassischen und modernen Literatur. . . Apollos
edles Gewand und gemessener Schritt, die priesterlich getragene Leier und
pathetische Gebärde passen schlecht zu germanischer Kraft und toller Wildheit,
zu unserer bunten Phantastik und versonnenen Mystik." Das sind vortreffliche
Grundsätze. Unsere Zwölfjährigen lächeln bereits vornehm über die schönsten
Märchen, und mit sechzehn ist es auch mit den Sagen für immer vorbei.
Dann kommt die kosmopolitische und (nicht im schlechten Sinne) artistische
Dichtung der Klassiker (man rede hier ja nicht von dem „nationalen" Tell!),
und wir wundern uns über den Rückgang alles Volkstümlichen, und beklagen
uns noch über den Mangel an Bodenständigkeit.

Da wäre noch viel zu sagen. Wer weiß z. B., daß das Erzählen eine
große Kunst ist und hohe Freude gewähren kann? Alle die kleinen Mittel der
Schule, Sprechen, Wiedergeben von Beobachtetem, Aufsätze, können im Sinne
einer verständigen Kunsterziehung angewandt werden. Aber es muß von unten
herauf geschehen. Immer heißt es, das Kind ist der größte Künstler. Weshalb
gehen wir nicht genauer auf seine Künstlereigenschaften ein und entwickeln sie
organisch? Nur weil sie nie erzählen lernten, ruinieren unsere Erwachsenen
die anmutigste Geschichte bei der Wiedergabe, nur weil sie nie sprechen lernten,
stochern unsere Redner aus dem Manuskript mühevoll ihre Sätze zusammen,
nur weil sie nie lernten, das Naheliegende und Reale knapp und klar aus¬
zudrücken, schreiben unsere Juristen ein ohnmächtiges Deutsch. Gewiß liegt viel
an der Begabung, aber zu einem tüchtigen Durchschnitt könnten wir es alle
bringen. Und wir müssen es, wollen wir vor unseren Nachbarn nicht ewig
als das Volk der weltfremden Gelehrten und kulturlosen Barbaren gelten.




Kr oder wider die innere Aolonisation?

er schöne Glaube ist wieder einmal zerstört. Dafür sollte man
— recht betrachtet — Herrn von Oldenburg nur Dank wissen.
So klar, so offen, so entschieden hat sich bisher kaum jemand
an solcher Stelle wider die innere Kolonisation erklärt. Jetzt
haben wir es schwarz auf weiß.

In neuester Zeit wird über die innere Kolonisation nicht nur mehr denn
je geschrieben und geredet, sondern es wird auch mehr denn bisher gehandelt.
Das muß gerade auch mit Rücksicht auf die angekündigten Regierungsvorlagen


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[0372] Für oder wider die innere Kolonisation? Wie kann man bessern? Rüttgers macht ausgezeichnete Vorschläge: „den Bedürfnissen des kindlichen Gemütes, seinen formalen und stofflichen Interessen werden die Werke der Volksliteratur, die Märchen und Sagen viel eher ent¬ sprechen, als die Werke der klassischen und modernen Literatur. . . Apollos edles Gewand und gemessener Schritt, die priesterlich getragene Leier und pathetische Gebärde passen schlecht zu germanischer Kraft und toller Wildheit, zu unserer bunten Phantastik und versonnenen Mystik." Das sind vortreffliche Grundsätze. Unsere Zwölfjährigen lächeln bereits vornehm über die schönsten Märchen, und mit sechzehn ist es auch mit den Sagen für immer vorbei. Dann kommt die kosmopolitische und (nicht im schlechten Sinne) artistische Dichtung der Klassiker (man rede hier ja nicht von dem „nationalen" Tell!), und wir wundern uns über den Rückgang alles Volkstümlichen, und beklagen uns noch über den Mangel an Bodenständigkeit. Da wäre noch viel zu sagen. Wer weiß z. B., daß das Erzählen eine große Kunst ist und hohe Freude gewähren kann? Alle die kleinen Mittel der Schule, Sprechen, Wiedergeben von Beobachtetem, Aufsätze, können im Sinne einer verständigen Kunsterziehung angewandt werden. Aber es muß von unten herauf geschehen. Immer heißt es, das Kind ist der größte Künstler. Weshalb gehen wir nicht genauer auf seine Künstlereigenschaften ein und entwickeln sie organisch? Nur weil sie nie erzählen lernten, ruinieren unsere Erwachsenen die anmutigste Geschichte bei der Wiedergabe, nur weil sie nie sprechen lernten, stochern unsere Redner aus dem Manuskript mühevoll ihre Sätze zusammen, nur weil sie nie lernten, das Naheliegende und Reale knapp und klar aus¬ zudrücken, schreiben unsere Juristen ein ohnmächtiges Deutsch. Gewiß liegt viel an der Begabung, aber zu einem tüchtigen Durchschnitt könnten wir es alle bringen. Und wir müssen es, wollen wir vor unseren Nachbarn nicht ewig als das Volk der weltfremden Gelehrten und kulturlosen Barbaren gelten. Kr oder wider die innere Aolonisation? er schöne Glaube ist wieder einmal zerstört. Dafür sollte man — recht betrachtet — Herrn von Oldenburg nur Dank wissen. So klar, so offen, so entschieden hat sich bisher kaum jemand an solcher Stelle wider die innere Kolonisation erklärt. Jetzt haben wir es schwarz auf weiß. In neuester Zeit wird über die innere Kolonisation nicht nur mehr denn je geschrieben und geredet, sondern es wird auch mehr denn bisher gehandelt. Das muß gerade auch mit Rücksicht auf die angekündigten Regierungsvorlagen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/372>, abgerufen am 03.07.2024.