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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trebeldorf

lernen, wie und wo man, vielleicht jahrzentelang, kommerziell operiert, um
dadurch später Möglichkeiten zu schaffen." Was hier allgemein gesagt ist, gilt
im besonderen für China. Wir dürfen sicherlich nicht erwarten, daß die deutsch¬
chinesischen Handelsbeziehungen von heute auf morgen ins Fabelhafte wachsen,
wir dürfen auch gewiß nicht annehmen, daß China in wenigen Jahren mit
westeuropäisch-amerikanischen Anschauungen durchtränkt ist und in drei bis
vier Jahrzehnten eine ähnliche politische und wirtschaftliche Stellung wie Japan
einnehmen wird. Dagegen spricht Chinas Vergangenheit, die Weite seines
Gebietes und die ungeheure Bevölkerung. Aber China wird sich entwickeln,
wird ein modernes Staatswesen werden, hat eine große Zukunft. Wir können
und müssen in kultureller und materieller Hinsicht Teilhaber dieser Zukunft
werden; allerdings: "Man muß Werte opfern, um Kräfte zu erzeugen."




Briefe aus Trebeldorf
Rarl Urickeberg von

Trebeldorf, den 14. Oktober 19 . .

Hurrah, lieber Cunz! Du willst kommen I -- Einen Juchzer habe ich
getan, daß es dröhnend wiederscholl von den Wänden. Ich Habs ausprobiert,
in welchem meiner sechs Zimmer er am lautesten gellt, und wenn Du eintriffst,
mache ich ihn Dir vor.

Das sei Dein Empfangsgruß I -- Hurrah!!!

Du möchtest nun wirklich die Bürgermeistergeschichte zu Ende hören? Ich
hatte sie, offen gestanden, mit Absicht unterschlagen, denn ich meinte, Du könntest
daran unmöglich ein Interesse haben. Doch Du fragst danach, und hier hast
Du sie:

Mutter Holzbergs Orakel stimmte. Wir haben den Bürgermeister richtig
zu der auf vier Uhr verabredeten Zeit einigermaßen auf die Beine gestellt.
Der prächtige Senator Schulz, der kleine Apotheker und ich sind mit ihm in
den Stadtwald hinausgefahren. Es hatte sich aufgehellt, und bald kam die
liebe Sonne hervor. Sie meinte es ehrlich; im Kopf unseres Stadtoberhauptes
ward lichtes Tauwetter, und bald wurde er gesprächig.

Im Walde liegt eine kleine Försterei. Da sind wir abgestiegen.

Während wir nun so am Kaffeetisch sitzen, da streicht -nein lieber Bürger¬
meister mit der linken Hand zu wiederholten Malen ganz sanft an meinem
Rockärmel herunter und fucht unter dem Tisch Anschluß an meine Fußspitzen,
wobei er mir unbeabsichtigt derb auf die Stiefel tritt.


Briefe aus Trebeldorf

lernen, wie und wo man, vielleicht jahrzentelang, kommerziell operiert, um
dadurch später Möglichkeiten zu schaffen." Was hier allgemein gesagt ist, gilt
im besonderen für China. Wir dürfen sicherlich nicht erwarten, daß die deutsch¬
chinesischen Handelsbeziehungen von heute auf morgen ins Fabelhafte wachsen,
wir dürfen auch gewiß nicht annehmen, daß China in wenigen Jahren mit
westeuropäisch-amerikanischen Anschauungen durchtränkt ist und in drei bis
vier Jahrzehnten eine ähnliche politische und wirtschaftliche Stellung wie Japan
einnehmen wird. Dagegen spricht Chinas Vergangenheit, die Weite seines
Gebietes und die ungeheure Bevölkerung. Aber China wird sich entwickeln,
wird ein modernes Staatswesen werden, hat eine große Zukunft. Wir können
und müssen in kultureller und materieller Hinsicht Teilhaber dieser Zukunft
werden; allerdings: „Man muß Werte opfern, um Kräfte zu erzeugen."




Briefe aus Trebeldorf
Rarl Urickeberg von

Trebeldorf, den 14. Oktober 19 . .

Hurrah, lieber Cunz! Du willst kommen I — Einen Juchzer habe ich
getan, daß es dröhnend wiederscholl von den Wänden. Ich Habs ausprobiert,
in welchem meiner sechs Zimmer er am lautesten gellt, und wenn Du eintriffst,
mache ich ihn Dir vor.

Das sei Dein Empfangsgruß I — Hurrah!!!

Du möchtest nun wirklich die Bürgermeistergeschichte zu Ende hören? Ich
hatte sie, offen gestanden, mit Absicht unterschlagen, denn ich meinte, Du könntest
daran unmöglich ein Interesse haben. Doch Du fragst danach, und hier hast
Du sie:

Mutter Holzbergs Orakel stimmte. Wir haben den Bürgermeister richtig
zu der auf vier Uhr verabredeten Zeit einigermaßen auf die Beine gestellt.
Der prächtige Senator Schulz, der kleine Apotheker und ich sind mit ihm in
den Stadtwald hinausgefahren. Es hatte sich aufgehellt, und bald kam die
liebe Sonne hervor. Sie meinte es ehrlich; im Kopf unseres Stadtoberhauptes
ward lichtes Tauwetter, und bald wurde er gesprächig.

Im Walde liegt eine kleine Försterei. Da sind wir abgestiegen.

Während wir nun so am Kaffeetisch sitzen, da streicht -nein lieber Bürger¬
meister mit der linken Hand zu wiederholten Malen ganz sanft an meinem
Rockärmel herunter und fucht unter dem Tisch Anschluß an meine Fußspitzen,
wobei er mir unbeabsichtigt derb auf die Stiefel tritt.


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[0239] Briefe aus Trebeldorf lernen, wie und wo man, vielleicht jahrzentelang, kommerziell operiert, um dadurch später Möglichkeiten zu schaffen." Was hier allgemein gesagt ist, gilt im besonderen für China. Wir dürfen sicherlich nicht erwarten, daß die deutsch¬ chinesischen Handelsbeziehungen von heute auf morgen ins Fabelhafte wachsen, wir dürfen auch gewiß nicht annehmen, daß China in wenigen Jahren mit westeuropäisch-amerikanischen Anschauungen durchtränkt ist und in drei bis vier Jahrzehnten eine ähnliche politische und wirtschaftliche Stellung wie Japan einnehmen wird. Dagegen spricht Chinas Vergangenheit, die Weite seines Gebietes und die ungeheure Bevölkerung. Aber China wird sich entwickeln, wird ein modernes Staatswesen werden, hat eine große Zukunft. Wir können und müssen in kultureller und materieller Hinsicht Teilhaber dieser Zukunft werden; allerdings: „Man muß Werte opfern, um Kräfte zu erzeugen." Briefe aus Trebeldorf Rarl Urickeberg von Trebeldorf, den 14. Oktober 19 . . Hurrah, lieber Cunz! Du willst kommen I — Einen Juchzer habe ich getan, daß es dröhnend wiederscholl von den Wänden. Ich Habs ausprobiert, in welchem meiner sechs Zimmer er am lautesten gellt, und wenn Du eintriffst, mache ich ihn Dir vor. Das sei Dein Empfangsgruß I — Hurrah!!! Du möchtest nun wirklich die Bürgermeistergeschichte zu Ende hören? Ich hatte sie, offen gestanden, mit Absicht unterschlagen, denn ich meinte, Du könntest daran unmöglich ein Interesse haben. Doch Du fragst danach, und hier hast Du sie: Mutter Holzbergs Orakel stimmte. Wir haben den Bürgermeister richtig zu der auf vier Uhr verabredeten Zeit einigermaßen auf die Beine gestellt. Der prächtige Senator Schulz, der kleine Apotheker und ich sind mit ihm in den Stadtwald hinausgefahren. Es hatte sich aufgehellt, und bald kam die liebe Sonne hervor. Sie meinte es ehrlich; im Kopf unseres Stadtoberhauptes ward lichtes Tauwetter, und bald wurde er gesprächig. Im Walde liegt eine kleine Försterei. Da sind wir abgestiegen. Während wir nun so am Kaffeetisch sitzen, da streicht -nein lieber Bürger¬ meister mit der linken Hand zu wiederholten Malen ganz sanft an meinem Rockärmel herunter und fucht unter dem Tisch Anschluß an meine Fußspitzen, wobei er mir unbeabsichtigt derb auf die Stiefel tritt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/239>, abgerufen am 27.06.2024.