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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Kurt Münzer

Ich erhob mich und fuhr zurück in die Stickluft der inneren Stadt, in der die
Fieberdünste und der Modergeruch ihres Untergrundes mit dem Staub der
Straßen vermischt wie ein übelriechender graubrauner Nebel lagen.

Einige Tage darauf sah ich Pawel Feodorowitsch. Er entsprach dem Bild,
das mir Herr Stürgens gemacht hatte. Er freute sich offenbar jeder Bekanntschaft
die ihn als vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft zu betrachten schien. "Den
ganzen nächsten Sommer bin ich auf Sachalin, Sie werden alles haben, was
Ihnen die Insel bieten kann. Ein Telegramm von Nikolajewsk oder Wladi¬
wostok genügt, ich hole Sie vom Dampfer ab." ----

Ein Jahr später wachte ich eines Morgens vor Posten-Alexandrowsk auf.
Auf der Reede schaukelte der kleine norwegische Dampfer, der den Russen den
Postdienst besorgte. Eben verzogen sich die Nebel und vor uns lag die stolze
Kette des Gebirges, das die Insel in ihrer ganzen Länge durchzieht. Vor dem
Anstieg der Berge dehnte sich das schmale Vorland und auf ihm eingebettet
zwischen Vorbergen ein weites graues Dorf, überragt von einigen Kirchen mit
grün glänzenden Dächern und Kuppeln. Der Dampfkutter kam längsseits. Der
Agent der Freiwilligen-Flotte kletterte an Bord, ich wollte ihn begrüßen, da
sah ich, es war nicht Pawel Feodorowitsch, sondern ein junger Herr. Er erzählte
mir auf meine Frage: Pawel war tot. Er war nie von Petersburg zurückgekehrt.

Später hörte ich das Ende von Pawels Lebensgeschichte. Was ihn auf
Sachalin kaum jemals gestört hatte, in Petersburg hatte er es peinlich
empfunden, daß jeder, der seine Vergangenheit kannte, und das waren die
meisten, die mit ihm zu tun hatten, unwillkürlich zurückwich, wenn er beim
Händedruck den krummen Mordfinger fühlte. Pawel Feodorowitsch ging zu
einem berühmten Chirurgen, der ihm den Finger gerade operierte. In das
noch nicht ganz versenke Glied stieß er sich eines Tages eine Stahlfeder; es trat
Blutvergiftung ein und der Tod. Das Schicksal hatte Pawel Feodorowitsch
nicht begnadigt.----




Aurt Münzer
Dr. Hansemann von in

urd? Hieß er denn nicht Thomas? Mancher mag so beim ersten
Blick fragen. Nein, es handelt sich nicht um jenen Schwarmgeist
und Bilderstürmer: Kurt Münzer ist ein junger Dichter unserer
Tage. (Geboren 1879 in Gleiwitz.) Aber fast möchte man
meinen, daß er aus jenes Münzer Blute stammt: auch er ist ein
Schwärmer und Bilderstürmer. Nicht von seltsamen geistlichen Offenbarungen
schwärmt er: er ist durchaus ungeistlich, seine alleinige Gottheit ist dieMWK


Kurt Münzer

Ich erhob mich und fuhr zurück in die Stickluft der inneren Stadt, in der die
Fieberdünste und der Modergeruch ihres Untergrundes mit dem Staub der
Straßen vermischt wie ein übelriechender graubrauner Nebel lagen.

Einige Tage darauf sah ich Pawel Feodorowitsch. Er entsprach dem Bild,
das mir Herr Stürgens gemacht hatte. Er freute sich offenbar jeder Bekanntschaft
die ihn als vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft zu betrachten schien. „Den
ganzen nächsten Sommer bin ich auf Sachalin, Sie werden alles haben, was
Ihnen die Insel bieten kann. Ein Telegramm von Nikolajewsk oder Wladi¬
wostok genügt, ich hole Sie vom Dampfer ab." —--

Ein Jahr später wachte ich eines Morgens vor Posten-Alexandrowsk auf.
Auf der Reede schaukelte der kleine norwegische Dampfer, der den Russen den
Postdienst besorgte. Eben verzogen sich die Nebel und vor uns lag die stolze
Kette des Gebirges, das die Insel in ihrer ganzen Länge durchzieht. Vor dem
Anstieg der Berge dehnte sich das schmale Vorland und auf ihm eingebettet
zwischen Vorbergen ein weites graues Dorf, überragt von einigen Kirchen mit
grün glänzenden Dächern und Kuppeln. Der Dampfkutter kam längsseits. Der
Agent der Freiwilligen-Flotte kletterte an Bord, ich wollte ihn begrüßen, da
sah ich, es war nicht Pawel Feodorowitsch, sondern ein junger Herr. Er erzählte
mir auf meine Frage: Pawel war tot. Er war nie von Petersburg zurückgekehrt.

Später hörte ich das Ende von Pawels Lebensgeschichte. Was ihn auf
Sachalin kaum jemals gestört hatte, in Petersburg hatte er es peinlich
empfunden, daß jeder, der seine Vergangenheit kannte, und das waren die
meisten, die mit ihm zu tun hatten, unwillkürlich zurückwich, wenn er beim
Händedruck den krummen Mordfinger fühlte. Pawel Feodorowitsch ging zu
einem berühmten Chirurgen, der ihm den Finger gerade operierte. In das
noch nicht ganz versenke Glied stieß er sich eines Tages eine Stahlfeder; es trat
Blutvergiftung ein und der Tod. Das Schicksal hatte Pawel Feodorowitsch
nicht begnadigt.--—




Aurt Münzer
Dr. Hansemann von in

urd? Hieß er denn nicht Thomas? Mancher mag so beim ersten
Blick fragen. Nein, es handelt sich nicht um jenen Schwarmgeist
und Bilderstürmer: Kurt Münzer ist ein junger Dichter unserer
Tage. (Geboren 1879 in Gleiwitz.) Aber fast möchte man
meinen, daß er aus jenes Münzer Blute stammt: auch er ist ein
Schwärmer und Bilderstürmer. Nicht von seltsamen geistlichen Offenbarungen
schwärmt er: er ist durchaus ungeistlich, seine alleinige Gottheit ist dieMWK


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[0106] Kurt Münzer Ich erhob mich und fuhr zurück in die Stickluft der inneren Stadt, in der die Fieberdünste und der Modergeruch ihres Untergrundes mit dem Staub der Straßen vermischt wie ein übelriechender graubrauner Nebel lagen. Einige Tage darauf sah ich Pawel Feodorowitsch. Er entsprach dem Bild, das mir Herr Stürgens gemacht hatte. Er freute sich offenbar jeder Bekanntschaft die ihn als vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft zu betrachten schien. „Den ganzen nächsten Sommer bin ich auf Sachalin, Sie werden alles haben, was Ihnen die Insel bieten kann. Ein Telegramm von Nikolajewsk oder Wladi¬ wostok genügt, ich hole Sie vom Dampfer ab." —-- Ein Jahr später wachte ich eines Morgens vor Posten-Alexandrowsk auf. Auf der Reede schaukelte der kleine norwegische Dampfer, der den Russen den Postdienst besorgte. Eben verzogen sich die Nebel und vor uns lag die stolze Kette des Gebirges, das die Insel in ihrer ganzen Länge durchzieht. Vor dem Anstieg der Berge dehnte sich das schmale Vorland und auf ihm eingebettet zwischen Vorbergen ein weites graues Dorf, überragt von einigen Kirchen mit grün glänzenden Dächern und Kuppeln. Der Dampfkutter kam längsseits. Der Agent der Freiwilligen-Flotte kletterte an Bord, ich wollte ihn begrüßen, da sah ich, es war nicht Pawel Feodorowitsch, sondern ein junger Herr. Er erzählte mir auf meine Frage: Pawel war tot. Er war nie von Petersburg zurückgekehrt. Später hörte ich das Ende von Pawels Lebensgeschichte. Was ihn auf Sachalin kaum jemals gestört hatte, in Petersburg hatte er es peinlich empfunden, daß jeder, der seine Vergangenheit kannte, und das waren die meisten, die mit ihm zu tun hatten, unwillkürlich zurückwich, wenn er beim Händedruck den krummen Mordfinger fühlte. Pawel Feodorowitsch ging zu einem berühmten Chirurgen, der ihm den Finger gerade operierte. In das noch nicht ganz versenke Glied stieß er sich eines Tages eine Stahlfeder; es trat Blutvergiftung ein und der Tod. Das Schicksal hatte Pawel Feodorowitsch nicht begnadigt.--— Aurt Münzer Dr. Hansemann von in urd? Hieß er denn nicht Thomas? Mancher mag so beim ersten Blick fragen. Nein, es handelt sich nicht um jenen Schwarmgeist und Bilderstürmer: Kurt Münzer ist ein junger Dichter unserer Tage. (Geboren 1879 in Gleiwitz.) Aber fast möchte man meinen, daß er aus jenes Münzer Blute stammt: auch er ist ein Schwärmer und Bilderstürmer. Nicht von seltsamen geistlichen Offenbarungen schwärmt er: er ist durchaus ungeistlich, seine alleinige Gottheit ist dieMWK

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/106>, abgerufen am 27.06.2024.