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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der heutige sont des Leib-Seele-Problems

aus dem französischen Gelbbuch -- zu überzeugen, wie wenig die oft in
patriotischem Ärger hingeworfene Behauptung von der Überlegenheit der fran¬
zösischen oder englischen Politik und Diplomatie zutrifft. Die aus solchem
Studium gewonnenen Eindrücke werden manches Vorurteil beseitigen und der
Schulung des politischen Urteils auch in anderen Fragen zum Vorteil gereichen.




Der heutige Stand des Leib-5cele-Problems
Life N)entsche von

u den grundlegendsten philosophischen Problemen, die zugleich auch
ein allgemeineres Interesse beanspruchen dürfen, gehört die Frage
nach den Beziehungen von Geist und Materie, nach dem Ver¬
hältnis von Seele und Leib. Alle Erfahrung, die aus der Außen¬
welt in unser Bewußtsein dringt, alles Material, das wir durch
unsere Sinne aufnehmen, ist ja ein Beweis, daß eine Berührung oder doch
irgend ein Konnex der materiellen und der Bewußtseinswirklichkeit besteht; denn
die Sinneswahrnehmungen find nichts anderes als die seelische Spiegelung von
Vorgängen der Außenwelt. Und umgekehrt: wenn wir wollend die geringsten
Veränderungen in der Außenwelt hervorbringen, ja wenn unser Wille auch nur
unseren eigenen Arm bewegt, so hat diese Tatsache die andere zur Voraus¬
setzung, daß an eine seelische Regung bestimmte physiologische und physikalische
Veränderungen gesetzmäßig geknüpft sind. Darum hat der "gemeine Menschen¬
verstand" es stets als selbstverständlich vorausgesetzt, daß in der Sinneswahr¬
nehmung der Körper auf die Seele und in den Willenshandlungen umgekehrt
die Seele auf den Körper wirke, daß Leib und Seele also in einem gesetz¬
mäßigen Wechselwirkungszusammenhange stehen.

Sollte diese naive Voraussetzung aber vor der wissenschaftlichen Auffassung
zu Recht bestehen? Wie kann so Wesensverschiedenes, wie Leib und Seele, auf¬
einander wirken? Dieses Bedenken, ja die Überzeugung von der Unmöglichkeit
einer solchen Wechselwirkung hat im Beginn der neueren Philosophie grund¬
legendsten Einfluß auf die Gestaltung der größten Gedankensysteme gehabt. Sie
hat Spinozas Parallelismus, den Okkasionalismus eines Geulincx und Male¬
branche und schließlich Leibniz' Lehre von der prästabilierten Harmonie hervor¬
getrieben. Denn der Grundgedanke aller dieser Systeme ist bestimmt durch den
Versuch, die Beziehungen der Außenwelt und des Bewußtseins auf anderem
als kausalen Wege zu deuten.


Der heutige sont des Leib-Seele-Problems

aus dem französischen Gelbbuch — zu überzeugen, wie wenig die oft in
patriotischem Ärger hingeworfene Behauptung von der Überlegenheit der fran¬
zösischen oder englischen Politik und Diplomatie zutrifft. Die aus solchem
Studium gewonnenen Eindrücke werden manches Vorurteil beseitigen und der
Schulung des politischen Urteils auch in anderen Fragen zum Vorteil gereichen.




Der heutige Stand des Leib-5cele-Problems
Life N)entsche von

u den grundlegendsten philosophischen Problemen, die zugleich auch
ein allgemeineres Interesse beanspruchen dürfen, gehört die Frage
nach den Beziehungen von Geist und Materie, nach dem Ver¬
hältnis von Seele und Leib. Alle Erfahrung, die aus der Außen¬
welt in unser Bewußtsein dringt, alles Material, das wir durch
unsere Sinne aufnehmen, ist ja ein Beweis, daß eine Berührung oder doch
irgend ein Konnex der materiellen und der Bewußtseinswirklichkeit besteht; denn
die Sinneswahrnehmungen find nichts anderes als die seelische Spiegelung von
Vorgängen der Außenwelt. Und umgekehrt: wenn wir wollend die geringsten
Veränderungen in der Außenwelt hervorbringen, ja wenn unser Wille auch nur
unseren eigenen Arm bewegt, so hat diese Tatsache die andere zur Voraus¬
setzung, daß an eine seelische Regung bestimmte physiologische und physikalische
Veränderungen gesetzmäßig geknüpft sind. Darum hat der „gemeine Menschen¬
verstand" es stets als selbstverständlich vorausgesetzt, daß in der Sinneswahr¬
nehmung der Körper auf die Seele und in den Willenshandlungen umgekehrt
die Seele auf den Körper wirke, daß Leib und Seele also in einem gesetz¬
mäßigen Wechselwirkungszusammenhange stehen.

Sollte diese naive Voraussetzung aber vor der wissenschaftlichen Auffassung
zu Recht bestehen? Wie kann so Wesensverschiedenes, wie Leib und Seele, auf¬
einander wirken? Dieses Bedenken, ja die Überzeugung von der Unmöglichkeit
einer solchen Wechselwirkung hat im Beginn der neueren Philosophie grund¬
legendsten Einfluß auf die Gestaltung der größten Gedankensysteme gehabt. Sie
hat Spinozas Parallelismus, den Okkasionalismus eines Geulincx und Male¬
branche und schließlich Leibniz' Lehre von der prästabilierten Harmonie hervor¬
getrieben. Denn der Grundgedanke aller dieser Systeme ist bestimmt durch den
Versuch, die Beziehungen der Außenwelt und des Bewußtseins auf anderem
als kausalen Wege zu deuten.


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[0519] Der heutige sont des Leib-Seele-Problems aus dem französischen Gelbbuch — zu überzeugen, wie wenig die oft in patriotischem Ärger hingeworfene Behauptung von der Überlegenheit der fran¬ zösischen oder englischen Politik und Diplomatie zutrifft. Die aus solchem Studium gewonnenen Eindrücke werden manches Vorurteil beseitigen und der Schulung des politischen Urteils auch in anderen Fragen zum Vorteil gereichen. Der heutige Stand des Leib-5cele-Problems Life N)entsche von u den grundlegendsten philosophischen Problemen, die zugleich auch ein allgemeineres Interesse beanspruchen dürfen, gehört die Frage nach den Beziehungen von Geist und Materie, nach dem Ver¬ hältnis von Seele und Leib. Alle Erfahrung, die aus der Außen¬ welt in unser Bewußtsein dringt, alles Material, das wir durch unsere Sinne aufnehmen, ist ja ein Beweis, daß eine Berührung oder doch irgend ein Konnex der materiellen und der Bewußtseinswirklichkeit besteht; denn die Sinneswahrnehmungen find nichts anderes als die seelische Spiegelung von Vorgängen der Außenwelt. Und umgekehrt: wenn wir wollend die geringsten Veränderungen in der Außenwelt hervorbringen, ja wenn unser Wille auch nur unseren eigenen Arm bewegt, so hat diese Tatsache die andere zur Voraus¬ setzung, daß an eine seelische Regung bestimmte physiologische und physikalische Veränderungen gesetzmäßig geknüpft sind. Darum hat der „gemeine Menschen¬ verstand" es stets als selbstverständlich vorausgesetzt, daß in der Sinneswahr¬ nehmung der Körper auf die Seele und in den Willenshandlungen umgekehrt die Seele auf den Körper wirke, daß Leib und Seele also in einem gesetz¬ mäßigen Wechselwirkungszusammenhange stehen. Sollte diese naive Voraussetzung aber vor der wissenschaftlichen Auffassung zu Recht bestehen? Wie kann so Wesensverschiedenes, wie Leib und Seele, auf¬ einander wirken? Dieses Bedenken, ja die Überzeugung von der Unmöglichkeit einer solchen Wechselwirkung hat im Beginn der neueren Philosophie grund¬ legendsten Einfluß auf die Gestaltung der größten Gedankensysteme gehabt. Sie hat Spinozas Parallelismus, den Okkasionalismus eines Geulincx und Male¬ branche und schließlich Leibniz' Lehre von der prästabilierten Harmonie hervor¬ getrieben. Denn der Grundgedanke aller dieser Systeme ist bestimmt durch den Versuch, die Beziehungen der Außenwelt und des Bewußtseins auf anderem als kausalen Wege zu deuten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/519>, abgerufen am 15.01.2025.