Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems In neuerer Zeit aber sind zu jenen allgemeinen Bedenken gegen eine Jüngst ist uns ein Buch geschenkt, das, allseitig orientiert, die Argumente Wir haben die Gehirnvorgänge als Auslösungsprozesse chemischer Energien Aber auch die Versuche, unser Fühlen und Wollen rein physiologisch zu *) Aus "Die Psychologie in Einzeldarstellungen", herausgegeben von EbbinghauS und
Meumann. Winter, Heidelberg. Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems In neuerer Zeit aber sind zu jenen allgemeinen Bedenken gegen eine Jüngst ist uns ein Buch geschenkt, das, allseitig orientiert, die Argumente Wir haben die Gehirnvorgänge als Auslösungsprozesse chemischer Energien Aber auch die Versuche, unser Fühlen und Wollen rein physiologisch zu *) Aus „Die Psychologie in Einzeldarstellungen", herausgegeben von EbbinghauS und
Meumann. Winter, Heidelberg. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0520" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322922"/> <fw type="header" place="top"> Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems</fw><lb/> <p xml:id="ID_2555"> In neuerer Zeit aber sind zu jenen allgemeinen Bedenken gegen eine<lb/> Wechselwirkung von Leib und Seele spezielle getreten: sie wurzeln in dem Gesetz<lb/> von der Erhaltung der Energie. Die Argumente für und wider haben eine<lb/> Fülle zum Teil wertvoller und lehrreicher Schriften über das „Leib-Seele-<lb/> Problem" hervorgetrieben, die aus dem Lager der Naturwissenschaft ebenso wie<lb/> der Philosophie und Psychologie stammen; sie alle sind ja an einer befriedigenden<lb/> Lösung des Problems in gleicher Weise, wenn auch von verschiedenen Gesichts¬<lb/> punkten aus, interessiert.</p><lb/> <p xml:id="ID_2556"> Jüngst ist uns ein Buch geschenkt, das, allseitig orientiert, die Argumente<lb/> aus den verschiedenen Gebieten kritisch erwägt und eine sehr willkommene Dar¬<lb/> stellung des heutigen Problemstandes bietet: das Buch „Gehirn und Seele"<lb/> von Erich Becher*). Der erste und umfassendste Teil des Buches gibt eine<lb/> orientierende und kritische Darstellung der modernen Theorien über Bau und<lb/> Funktionen des Nervensystems, vor allem des Großhirns, und erörtert auf<lb/> dieser Grundlage die Frage nach den physiologischen Korrelaten der einzelnen<lb/> seelischen Vorgänge. Die Gehirnphysiologie hat versucht, die Gesamtheit dessen,<lb/> was wir in unseren! Bewußtsein erleben, restlos zu erklären aus den nervösen<lb/> Prozessen im Großhirn, an deren Unversehrtheit die höheren geistigen Vorgänge<lb/> ja tatsächlich gebunden sind. Becher unterzieht nun die verschiedenen Hypothesen,<lb/> die zur physiologischen Erklärung von Gedächtnis und Assoziation, von Fühlen,<lb/> Wollen und Denken gebildet sind, einer eingehenden Kritik, und er zeigt, daß<lb/> eine rein physiologische Erklärung der Bewußtseinsvorgänge aus verschiedensten<lb/> Gründen nicht durchführbar ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_2557"> Wir haben die Gehirnvorgänge als Auslösungsprozesse chemischer Energien<lb/> zu deuten; diese aber lassen — gegenüber der Fülle und Wandelbarkeit der<lb/> Bewußtseinsinhalte und -Vorgänge — so wenige Modifikationen zu, daß es<lb/> nicht gelingt, die verwickelten Vorgänge etwa des Wiederkennens, der Re¬<lb/> produktion oder des Gedächtnisses allein aus jenen körperlichen Grundlagen<lb/> abzuleiten. Umgekehrt aber haben wir oft Ungleichheit der physiologischen Reize<lb/> anzunehmen, wo in unserem Bewußtsein der Eindruck von Gleichheit oder<lb/> Ähnlichkeit erzeugt wird; so wäre z. B. niemals die Ähnlichkeit, die wir zwischen<lb/> einem menschlichen Gesicht und einer Photographie sofort erkennen, abzuleiten<lb/> aus irgendeiner Ähnlichkeit des Netzhautbildes in beiden Fällen. Viel größere<lb/> Schwierigkeiten aber setzen die Phantasievorstellungen und die Denkprozesse einer<lb/> restlosen physiologischen Erklärung entgegen: die dahingehender Versuche zwingen<lb/> zu einer Häufung von HilfsHypothesen, bei denen der Boden der Erfahrung<lb/> verlassen wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_2558" next="#ID_2559"> Aber auch die Versuche, unser Fühlen und Wollen rein physiologisch zu<lb/> erklären, scheitern — so einleuchtend sie auch von Forschern verschiedenster<lb/> Richtungen gemacht sind — an der inkommensurablen Natur der körperlichen und</p><lb/> <note xml:id="FID_62" place="foot"> *) Aus „Die Psychologie in Einzeldarstellungen", herausgegeben von EbbinghauS und<lb/> Meumann. Winter, Heidelberg.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0520]
Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems
In neuerer Zeit aber sind zu jenen allgemeinen Bedenken gegen eine
Wechselwirkung von Leib und Seele spezielle getreten: sie wurzeln in dem Gesetz
von der Erhaltung der Energie. Die Argumente für und wider haben eine
Fülle zum Teil wertvoller und lehrreicher Schriften über das „Leib-Seele-
Problem" hervorgetrieben, die aus dem Lager der Naturwissenschaft ebenso wie
der Philosophie und Psychologie stammen; sie alle sind ja an einer befriedigenden
Lösung des Problems in gleicher Weise, wenn auch von verschiedenen Gesichts¬
punkten aus, interessiert.
Jüngst ist uns ein Buch geschenkt, das, allseitig orientiert, die Argumente
aus den verschiedenen Gebieten kritisch erwägt und eine sehr willkommene Dar¬
stellung des heutigen Problemstandes bietet: das Buch „Gehirn und Seele"
von Erich Becher*). Der erste und umfassendste Teil des Buches gibt eine
orientierende und kritische Darstellung der modernen Theorien über Bau und
Funktionen des Nervensystems, vor allem des Großhirns, und erörtert auf
dieser Grundlage die Frage nach den physiologischen Korrelaten der einzelnen
seelischen Vorgänge. Die Gehirnphysiologie hat versucht, die Gesamtheit dessen,
was wir in unseren! Bewußtsein erleben, restlos zu erklären aus den nervösen
Prozessen im Großhirn, an deren Unversehrtheit die höheren geistigen Vorgänge
ja tatsächlich gebunden sind. Becher unterzieht nun die verschiedenen Hypothesen,
die zur physiologischen Erklärung von Gedächtnis und Assoziation, von Fühlen,
Wollen und Denken gebildet sind, einer eingehenden Kritik, und er zeigt, daß
eine rein physiologische Erklärung der Bewußtseinsvorgänge aus verschiedensten
Gründen nicht durchführbar ist.
Wir haben die Gehirnvorgänge als Auslösungsprozesse chemischer Energien
zu deuten; diese aber lassen — gegenüber der Fülle und Wandelbarkeit der
Bewußtseinsinhalte und -Vorgänge — so wenige Modifikationen zu, daß es
nicht gelingt, die verwickelten Vorgänge etwa des Wiederkennens, der Re¬
produktion oder des Gedächtnisses allein aus jenen körperlichen Grundlagen
abzuleiten. Umgekehrt aber haben wir oft Ungleichheit der physiologischen Reize
anzunehmen, wo in unserem Bewußtsein der Eindruck von Gleichheit oder
Ähnlichkeit erzeugt wird; so wäre z. B. niemals die Ähnlichkeit, die wir zwischen
einem menschlichen Gesicht und einer Photographie sofort erkennen, abzuleiten
aus irgendeiner Ähnlichkeit des Netzhautbildes in beiden Fällen. Viel größere
Schwierigkeiten aber setzen die Phantasievorstellungen und die Denkprozesse einer
restlosen physiologischen Erklärung entgegen: die dahingehender Versuche zwingen
zu einer Häufung von HilfsHypothesen, bei denen der Boden der Erfahrung
verlassen wird.
Aber auch die Versuche, unser Fühlen und Wollen rein physiologisch zu
erklären, scheitern — so einleuchtend sie auch von Forschern verschiedenster
Richtungen gemacht sind — an der inkommensurablen Natur der körperlichen und
*) Aus „Die Psychologie in Einzeldarstellungen", herausgegeben von EbbinghauS und
Meumann. Winter, Heidelberg.
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