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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Hchülerjahre
Randbemerkungen zu einem zeitgemäßen Buch
Dr. Wilhelm Martin Becker- von

le Kriminalpsychologie sieht es als eines ihrer bedeutsamsten
Probleme an, die Ursachen und den Grad der Trübung fest¬
zustellen, der eine Wahrnehmung in der Psyche des Beobachters
ausgesetzt ist, bis er sie in Form einer Aussage wiedergibt. Was
hier im Dienste der Rechtspflege geschieht, ist nichts anderes, als
was der Historiker, seitdem es historische Kritik gibt, an seinen Quellen zu üben
hatte. Die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses, die mehr oder minder bewußten
Kombinationen, die sich an die Wahrnehmung anschließen, mancherlei edlere oder
unedlere Tendenzen, das Hineintragen späterer Erkenntnisse in die früheren
Gedächtnisbilder, alles das muß berücksichtigt werden, wenn man eine Geschichts¬
quelle werten und aus ihr die objektive Wahrheit ermitteln will.

In besonders hohem Grade ist diese kritische Tätigkeit erforderlich, wenn
eine Quellenaussage über Dinge berichtet, die nur dem Zeugen selbst bekannt
waren, wie über eigene Erlebnisse, und unter diesen Quellenschriften müssen mit
außergewöhnlicher Vorsicht diejenigen gelesen werden, die vorwiegend innere
Erlebnisse darstellen. Insofern ist es eine der schwierigsten, aber auch der reiz¬
vollsten Aufgaben historischer Kritik, in Memoirenwerken das objektiv Tatsäch¬
liche von den subjektiven Zutaten zu scheiden. Ihren Gipfel aber erreicht die
Schwierigkeit, objektiv Wahres auszusagen oder solche Zeugnisse kritisch zu werten,
wenn sich die Berichte auf die inneren Erlebnisse in einer Zeit des Werdens
und Wachsens beziehen oder auf die innere Spiegelung äußerer Ereignisse und
Zustände in derjenigen Zeit der Jugend, in der noch alles unfertig, gärend,
ungleichförmig, trübe ist. Wir werden daher alle ernstgemeinten Aussagen über
das Innenleben der eigenen Jugendzeit mit höchstem Interesse aufnehmen, weil
sie versuchen, uns einen Blick werfen zu lassen in ein Land voller Gewölk und
Nebel; aber wir werden nichts gewinnen, wenn wir alles für objektiv richtig
ansehen, was die Erzähler, innerlich überzeugt von der Wahrheit ihrer Dar¬
stellung, uns vortragen.

Solche Berichte über das Innenleben in der eigenen Jugend liegen uns
vor in einem Buch, das in den letzten Monaten allgemeine Beachtung und




Hchülerjahre
Randbemerkungen zu einem zeitgemäßen Buch
Dr. Wilhelm Martin Becker- von

le Kriminalpsychologie sieht es als eines ihrer bedeutsamsten
Probleme an, die Ursachen und den Grad der Trübung fest¬
zustellen, der eine Wahrnehmung in der Psyche des Beobachters
ausgesetzt ist, bis er sie in Form einer Aussage wiedergibt. Was
hier im Dienste der Rechtspflege geschieht, ist nichts anderes, als
was der Historiker, seitdem es historische Kritik gibt, an seinen Quellen zu üben
hatte. Die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses, die mehr oder minder bewußten
Kombinationen, die sich an die Wahrnehmung anschließen, mancherlei edlere oder
unedlere Tendenzen, das Hineintragen späterer Erkenntnisse in die früheren
Gedächtnisbilder, alles das muß berücksichtigt werden, wenn man eine Geschichts¬
quelle werten und aus ihr die objektive Wahrheit ermitteln will.

In besonders hohem Grade ist diese kritische Tätigkeit erforderlich, wenn
eine Quellenaussage über Dinge berichtet, die nur dem Zeugen selbst bekannt
waren, wie über eigene Erlebnisse, und unter diesen Quellenschriften müssen mit
außergewöhnlicher Vorsicht diejenigen gelesen werden, die vorwiegend innere
Erlebnisse darstellen. Insofern ist es eine der schwierigsten, aber auch der reiz¬
vollsten Aufgaben historischer Kritik, in Memoirenwerken das objektiv Tatsäch¬
liche von den subjektiven Zutaten zu scheiden. Ihren Gipfel aber erreicht die
Schwierigkeit, objektiv Wahres auszusagen oder solche Zeugnisse kritisch zu werten,
wenn sich die Berichte auf die inneren Erlebnisse in einer Zeit des Werdens
und Wachsens beziehen oder auf die innere Spiegelung äußerer Ereignisse und
Zustände in derjenigen Zeit der Jugend, in der noch alles unfertig, gärend,
ungleichförmig, trübe ist. Wir werden daher alle ernstgemeinten Aussagen über
das Innenleben der eigenen Jugendzeit mit höchstem Interesse aufnehmen, weil
sie versuchen, uns einen Blick werfen zu lassen in ein Land voller Gewölk und
Nebel; aber wir werden nichts gewinnen, wenn wir alles für objektiv richtig
ansehen, was die Erzähler, innerlich überzeugt von der Wahrheit ihrer Dar¬
stellung, uns vortragen.

Solche Berichte über das Innenleben in der eigenen Jugend liegen uns
vor in einem Buch, das in den letzten Monaten allgemeine Beachtung und


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[0074] [Abbildung] Hchülerjahre Randbemerkungen zu einem zeitgemäßen Buch Dr. Wilhelm Martin Becker- von le Kriminalpsychologie sieht es als eines ihrer bedeutsamsten Probleme an, die Ursachen und den Grad der Trübung fest¬ zustellen, der eine Wahrnehmung in der Psyche des Beobachters ausgesetzt ist, bis er sie in Form einer Aussage wiedergibt. Was hier im Dienste der Rechtspflege geschieht, ist nichts anderes, als was der Historiker, seitdem es historische Kritik gibt, an seinen Quellen zu üben hatte. Die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses, die mehr oder minder bewußten Kombinationen, die sich an die Wahrnehmung anschließen, mancherlei edlere oder unedlere Tendenzen, das Hineintragen späterer Erkenntnisse in die früheren Gedächtnisbilder, alles das muß berücksichtigt werden, wenn man eine Geschichts¬ quelle werten und aus ihr die objektive Wahrheit ermitteln will. In besonders hohem Grade ist diese kritische Tätigkeit erforderlich, wenn eine Quellenaussage über Dinge berichtet, die nur dem Zeugen selbst bekannt waren, wie über eigene Erlebnisse, und unter diesen Quellenschriften müssen mit außergewöhnlicher Vorsicht diejenigen gelesen werden, die vorwiegend innere Erlebnisse darstellen. Insofern ist es eine der schwierigsten, aber auch der reiz¬ vollsten Aufgaben historischer Kritik, in Memoirenwerken das objektiv Tatsäch¬ liche von den subjektiven Zutaten zu scheiden. Ihren Gipfel aber erreicht die Schwierigkeit, objektiv Wahres auszusagen oder solche Zeugnisse kritisch zu werten, wenn sich die Berichte auf die inneren Erlebnisse in einer Zeit des Werdens und Wachsens beziehen oder auf die innere Spiegelung äußerer Ereignisse und Zustände in derjenigen Zeit der Jugend, in der noch alles unfertig, gärend, ungleichförmig, trübe ist. Wir werden daher alle ernstgemeinten Aussagen über das Innenleben der eigenen Jugendzeit mit höchstem Interesse aufnehmen, weil sie versuchen, uns einen Blick werfen zu lassen in ein Land voller Gewölk und Nebel; aber wir werden nichts gewinnen, wenn wir alles für objektiv richtig ansehen, was die Erzähler, innerlich überzeugt von der Wahrheit ihrer Dar¬ stellung, uns vortragen. Solche Berichte über das Innenleben in der eigenen Jugend liegen uns vor in einem Buch, das in den letzten Monaten allgemeine Beachtung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/74>, abgerufen am 29.06.2024.